„Er war seinen Freunden sehr überlegen“

„Er war seinen Freunden sehr überlegen“

Ein Gespräch mit dem Kafka-Biographen über Einsichten und Erkenntnisse seiner umfassenden Arbeit

19. 11. 2014 - Text: Josef Füllenbach

Nach der Diskussionsveranstaltung im Goethe-Institut hatte der PZ-Mitarbeiter Josef Füllenbach Gelegenheit, Reiner Stach zu einigen Aspekten seiner langjährigen Beschäftigung mit Kafkas Leben und Werk zu befragen.

Herr Stach, auf Ihrer Webseite findet man ein Zitat des Schriftstellers Frederic Brown: „Mich widert das Schreiben an, aber ich finde es wunderbar, geschrieben zu haben.“ Finden Sie sich darin nach 18 Jahren Arbeit an Ihrer Kafka-Biographie wieder?

Reiner Stach: Nun, es ist eine ironisch überspitzte Beschreibung dessen, was ich jahrelang erlebt habe; ich sage überspitzt, sonst hätte ich nicht durchgehalten. Auf Kafka trifft das keinesfalls zu, denn für ihn war das Schreiben eine rauschhafte Erfahrung, eine Intensität des Erlebens, die er in seinem Alltag nur sehr selten erlebt hat. Und Kafka hat die Phasen seines Lebens, in denen er schreiben konnte, als die einzig wirklich sinnvollen empfunden.

Milan Kundera hat in seinem Essay „Verratene Vermächtnisse“ Max Brod vorgeworfen, das Vermächtnis von Kafka verraten zu haben, und das nicht etwa, weil Brod sich nicht an Kafkas letztwillige Verfügung hielt, alles Schriftliche zu verbrennen, sondern weil Brod mit seinen eigenen Schriften von Kafka und dessen Werk ein Zerrbild geschaffen und so die Kafkalogie erfunden habe. Können Sie dem zustimmen?

Stach: Ja, so weit würde ich auch gehen. Aber im Gegensatz zu Kundera bin ich der Meinung, dass wir heute davon geheilt sind, weil wir das durchschaut haben. Brod hat Kafka sogar auf verschiedene Weisen interpretiert, die sich zum Teil widersprechen. Zum Beispiel hat er ihn als politischen Propheten, dann aber auch theologisch gedeutet. Aber das findet im Werk keinen Halt. Die Machtinstitutionen im „Prozess“, im „Schloss“ verkörpern alles andere als Heil oder Erlösung, sondern das Böse und Menschenfeindliche, wenn man schon theologisch deuten will. Wie will Brod das erklären? Ich glaube nicht, dass Brod Kafka wirklich verstanden hat. Ein Indiz dafür ist, wie sich Brod später über Beckett geäußert hat. Beckett ist für mich der eigentliche Erbe von Kafka, weil er es geschafft hat, das Entsetzliche und das Komische in einem Punkt zusammenzuführen. Und Brod sagt dazu: Mit diesem absurden Zeug hat Kafka überhaupt nichts zu tun. Diese Form der Modernität war Brod fremd, ging wirklich über seinen Horizont. Sogar Kafka hat sich darüber beklagt, dass er mit Brod niemals ein wirklich tiefes Gespräch über ganz grundsätzliche Dinge führen konnte. Robert Musil wäre der perfekte Partner für Kafka gewesen. Es gab ja mit ihm schon eine gewisse Korrespondenz, die sehr vertrauensvoll war. Doch dann kam der Erste Weltkrieg dazwischen. Es gehört für mich zu den tragischen Momenten in Kafkas Leben, dass er immer wieder auf seine wenigen Freunde in Prag zurückgeworfen wurde und nicht noch andere gefunden hat, mit denen er sich vielleicht auf Augenhöhe über Literatur hätte austauschen können.

Es ist Ihnen gelungen, einen gewissen Einblick in den noch unzugänglichen Nachlass Brods zu nehmen. Sind Sie dabei auch auf Fundstücke gestoßen, die im Einzelnen zu Korrekturen in den beiden ersten Bänden führen?

Stach: Zum Beispiel habe ich ein Notizbuch von Brod studiert, in dem ausschließlich Notizen zum ostjüdischen Theater enthalten sind und auch Kafkas Haltung dazu eingefangen ist. Ich könnte nun sehr viel plastischer darstellen, was ich darüber schon im ersten Band geschrieben hatte. Kafka war begeistert, Brod eher skeptisch: Das können doch keine Vorbilder sein für eine künftige jüdische Kultur! Das hätte ich mit Zitaten besser untermauern können, wenn ich dieses Buch schon damals gehabt hätte. Generell gilt: Ich erhoffe mir von dem Nachlass zwar viele Details, aber ich erwarte nicht, dass das Bild umgestürzt wird, dazu haben wir doch zu viele andere Quellen. Ich rechne aber mit wichtigen neuen Informationen aus dem Nachlass im Hinblick auf Max Brod als Abgeordneter der Jüdischen Partei nach dem Ersten Weltkrieg. Als solcher hatte er Zugang zu Masaryk, er war mit anderen jüdischen Abgeordneten zu Audienzen eingeladen, mehrmals aber auch allein. Von diesen zahlreichen Gesprächen, in denen es vor allem um den zunehmenden Antisemitismus ging, hat er natürlich Kafka erzählt. Das heißt, Kafka wusste auf diesem Wege nach dem Krieg viel mehr über die Situation als der normale Zeitungsleser. Und ich glaube, das hat seinen Willen, Prag zu verlassen, beeinflusst. An Milena hat er zum Beispiel geschrieben, der Antisemitismus auf den Straßen sei kaum noch zu ertragen. Es sei eine Schande, hier zu leben. Wahrscheinlich hat er über Brod erfahren, dass in den nächsten Jahren keine Hoffnung auf Besserung besteht. Um das nun zu beweisen, bräuchte man die Unterlagen von Brod, in denen seine Gespräche mit Masaryk sicher protokolliert sind.

18 Jahre lang intensive Beschäftigung mit Franz Kafka, – wie konnte es Ihnen dabei gelingen, die notwendige Distanz des Biographen zu wahren?

Stach: Die Distanz ergibt sich schon daraus, dass ich die Bedingungen eben durchschaue, unter denen Kafka aufgewachsen ist; ich sehe die Einflüsse, denen er unterlegen ist, oft ohne es zu merken. Das gilt zum Beispiel für die merkwürdigen Geschlechterverhältnisse, die Frauenbilder, die es gab und mit denen er aufwuchs. Er hat sie zwar in seinem Sinne transformiert, aber sich doch beeinflussen lassen. Indem ich das registriere, werde ich zu seinem Beobachter und verlasse die Rolle des distanz­losen Fans. Jetzt, da ich das ganze Umfeld kenne, sehe ich auch, dass er kein Komet ist, der aus dem Nichts kommt, sondern er war ein Mensch in seiner Zeit. Er hat nur eben ein besseres Gespür gehabt als andere, ein besseres soziales Radar, könnte man sagen. Und dieses Radar hat sehr weit gereicht, sogar bis in unser Jahrhundert. Damit war er anderen, vor allem seinen Freunden, sehr überlegen. Auch der Begriff Genie hilft uns da nicht weiter. Er war genial in seinen Fähigkeiten, aber das ändert ja nichts daran, dass er unter bestimmten Bedingungen aufgewachsen ist, die er als Kind erst einmal aufgesaugt hat. Er musste das später als Erwachsener natürlich reflektieren, und das ist ihm besser gelungen als anderen. Kurz: Das Wissen um seine Bedingtheit schafft eine gewisse Distanz, und die wiederum ermöglicht ein besseres Verständnis.

Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, 608 Seiten, 34 Euro, ISBN 978-3-10-075130-0

Das Gesamtwerk:
Kafka. Die frühen Jahre (1883–1910)
Kafka. Die Jahre der Entscheidung (1910–1915)
Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (1916–1924)