Europa als Aufgabe
Über Václav Havels unermüdlichen Einsatz für die europäische Einigung
8. 10. 2012 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: mzv
Vor 14 Jahren, am 3. Oktober 1998, folgte Václav Havel einer Einladung des wenige Tage zuvor zum Bundeskanzler gewählten Gerhard Schröder nach Hannover. Beim zentralen Festakt zum Tag der deutschen Einheit im Kuppelsaal des Kongresszentrums sprach der damalige Präsident Tschechiens vor der versammelten Politprominenz der Bundesrepublik. Darunter sein Freund, Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, und der zwar vom Volk abgewählte, aber noch amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl. In seiner Rede brachte Havel eines besonders zum Ausdruck: Die Einheit Deutschlands und die Teilung der Tschechoslowakei basieren beide auf dem gleichen Ereignis – dem Fall der Berliner Mauer, der gleichbedeutend mit dem Ende des Kommunismus ist – und auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Mit dem Ausspruch des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, „die Staaten erhalten sich durch jene Ideale, aus denen sie geboren wurden“, wollte Havel Hoffnung geben für die Zukunft des wiedervereinten Deutschlands und der Staaten, die sich einst östlich des Eisernen Vorhangs befanden. Die DDR sei „aus dem Bösen des geteilten Europa“ entstanden und „dieses Böse ist stets aufrechterhalten worden“. „Das Ende der Teilung war vor allem gut für die Bürger der westlichen Bundesländer. Auch gut für die Bürger der östlichen Bundesländer. Es war gut für die gesamte Welt, und jeder Mensch auf der Welt sollte das genauso sehen.“
Havel hat nie einen Hehl aus seiner Meinung gemacht, dass das Schicksal Europas vom Schicksal Deutschlands abhängt. „Das heutige demokratische Deutschland“, so erklärte er in Hannover, „ist das Labor eines sich vereinigenden Europa“. In Havels Labor wurde nicht experimentiert, sondern stets nach dem von ihm formulierten Ideal „Wahrheit und Liebe müssen siegen über Lügen und Hass“ gehandelt. Bescheidenheit, Selbstbewusstsein und vor allem Hoffnung spielten für Havel eine entscheidende Rolle.
Als Václav Havel am 18. Dezember vergangenen Jahres starb, trauerten nicht nur seine Landsleute um ihren „Pan prezident“, den er auch nach seiner 14 Jahre andauernden Amtszeit zwischen 1989 und 2003 verkörperte. In ganz Europa – und auch darüber hinaus – nahmen die Menschen leise Abschied von dem Dramatiker und Essayist, der unfreiwillig zu einem der unbeugsamsten Dissidenten des ehemaligen Ostblocks und schließlich zur Symbolfigur der Samtenen Revolution und zum Präsidenten seines Landes wurde. Für den schwedischen Außenminister Carl Bildt war der verstorbene Dichterpräsident „einer der größten Europäer unserer Zeit“. Der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sagte tief bewegt, „Europa ist ärmer geworden, wir alle sind es.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte Havels „Einsatz für Freiheit und Demokratie“, der ebenso unvergessen bleiben würde wie seine „große Menschlichkeit“. Gerade die Deutschen hätten dem „großen Europäer“ viel zu verdanken, teilte sie damals in einem Schreiben an Präsident Václav Klaus mit, dessen Gedanken zu Europa – das ist hinlänglich bekannt – in Widerspruch zu Havel stehen.
Doch wie sieht es aus, das Europa-Bild des Václav Havel? Kann Europa in Zeiten von Finanz- und Wirtschaftskrise von dem einstigen Bürgerrechtler lernen? Welchen Anteil hatte er am raschen Beitritt Tschechiens in die EU? Die Antwort auf die letzte Frage ist eindeutig: einen entscheidenden. Nicht nur, dass Havels Einsatz als Präsident die Öffnung seines Landes gegenüber Westeuropa und den USA entscheidend vorangetrieben hat. Er setzte sich sogar dafür ein, nicht nur den Beitritt Tschechiens, sondern auch die Aufnahme Polens und Ungarns in die Europäische Union wahr werden zu lassen.
Sein Wort hatte Gewicht bei den europäischen Partnern. Mit Havel stand ihnen zwar eigentlich kein Politiker gegenüber, doch jemand, der einem übermächtigen Feind getrotzt, die legendäre Charta 77 initiiert und mit seinem Leitsatz eines „Lebens in Wahrheit“ die Dissidenten-Bewegungen im östlichen Europa maßgeblich beeinflusst und gestärkt hatte. Außenminister Bildt sah in Havel „eine der wichtigsten und mutigsten Stimmen des modernen Europa.“ Er sei die „vielleicht stärkste aller Stimmen hinter dem Eisernen Vorhang“ gewesen, die auch nach 1989 nicht verstummt sei.
Wie kein zweiter setzte sich Havel für die tschechisch-deutsche Aussöhnung ein, die für ihn ein Schlüssel zur europäischen Integration darstellte. In der französischen Tageszeitung „Le Monde“ war wenige Tage nach Havels Tod zu lesen, „sein Kampf war moralisch und politisch. Bei der Wiedervereinigung des durch den Kalten Krieg getrennten Europas fiel ihm eine Schlüsselrolle zu. Er kämpfte für die Aufnahme der Tschechischen Republik in die europäische Familie. Die politischen Erben der Generation Havel hinken in ihren Visionen ziemlich hinterher. Deren Werte, Vorstellungen und offener Geist werden jedoch gerade jetzt dringender denn je benötigt.“
Die Europäische Union begriff Havel als eine große historische Chance für einen Kontinent, dessen politische Ordnung stets darauf beruhte, dass die großen und mächtigen Nationen die Entscheidungen trafen und die kleinen mit den Konsequenzen leben mussten. „Die Chance, dass ein politisch integriertes Gebilde daraus wird, das auf engen friedlichen Kooperationen beruht, darf niemals zerstört werden. Das ist die Aufgabe für ganz Europa“, erklärte Havel im März 1996 in einem Gespräch für die kanadische Zeitung „Globe and Mail“.
Auf die Befürchtungen vieler seiner Landsleute, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beschränke deren Souveränität, entgegnete Havel am 30. April 2004, einen Tag vor dem EU-Beitritt Tschechiens: „Beschränkt wird vor allem die Souveränität postkommunistischer Mafiosi, von Hochstaplern in der Wirtschaft, von Finanzakrobaten und deren politischen Beschützern. Die Souveränität vieler anderer, so glaube ich, wird beträchtlich gestärkt: Sie werden zu selbstbewussten Bürgern Europas, die ohne Barrieren ihre persönliche Freiheit verwirklichen und im gesamteuropäischen Maßstab Werte wie Menschenwürde und Solidarität erfahren.“
Zu Lebzeiten achtete man Havels Leistungen für den europäischen Einigungsprozess. So wurde er bereits 1991 mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen „in Würdigung seines Einsatzes für den Geist der Freiheit und die Verwirklichung des Friedens in seinem Land und in ganz Europa“ geehrt.
Die Haltung Tschechiens im Ringen um den Vertrag von Lissabon im Jahre 2009 nahm Havel damals gelassen hin. Man behalte immer ein bestimmtes Maß an Souveränität. Eine völlige Souveränität könne es gar nicht geben, erklärte er im November 2009 vor den Abgeordneten des Europaparlaments in Brüssel.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“