Europa ist anderswo

Europa ist anderswo

Über 80 Prozent der Tschechen sind den Wahlkabinen am Wochenende ferngeblieben. Nur in der Slowakei stimmten noch weniger bei den Europawahlen ab. Warum so wahlmüde?

28. 5. 2014 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: ČTK/Václav Šálek

Die Wahlhelfer in Tschechien hatten am vergangenen Wochenende kaum etwas zu tun. Nie zuvor bei einer landesweiten Wahl suchten so wenige Bürger die Wahllokale auf. Nur jeder fünfte Bürger gab einem der tschechischen Kandidaten für das Europaparlament seine Stimme. Dabei hatten die Wahlberechtigten anders als im Rest Europas sogar einen Tag länger Zeit, um ihr Kreuz auf dem Stimmzettel zu setzen.

Am späten Sonntagabend stand das zumindest für überzeugte Europäer erschreckende Ergebnis fest: An der Europawahl in Tschechien beteiligten sich nur 18,20 Prozent, vor fünf Jahren waren es immerhin zehn Prozent mehr gewesen. Nur in der benachbarten Slowakei herrschte eine noch ausgeprägtere Wahlmüdigkeit: Gerade einmal 13,05 Prozent machten dort von ihrem Wahlrecht Gebrauch.

Die geringe Wahlbeteiligung war für die meisten Beobachter das überraschendste Ergebnis der Europawahl. Der knappe Erfolg der ANO-Partei war weitgehend erwartet worden. Mit 16,13 Prozent hatte sie nur knapp 3.000 Stimmen mehr erhalten als TOP 09 – ein Achtungserfolg für die von Ex-Außenminister Karel Schwarzenberg geführte Oppositionspartei. Als Wahlsieger konnte sich jedoch niemand fühlen. ANO, TOP 09 und die drittplatzierten Sozialdemokraten (ČSSD) entsenden jeweils vier Abgeordnete in das Europaparlament.

Den Sprung über die Fünfprozenthürde, die nach der Wahl stärker als zuvor in der Kritik steht (Fast fünf Prozent), schafften zudem die Kommunisten (KSČM), Christdemokraten (KDU-ČSL), Bürgerdemokraten (ODS) und die sogenannten Freien Bürger (Svobodní), eine liberalkonservative und dem euroskeptischen ehemaligen Staatspräsidenten Václav Klaus nahestehende Partei.

Der Wahlausgang wird für die Prager Politik aller Voraussicht nach keine Folgen haben. Doch die  wachsende Europaverdrossenheit der Tschechen sollte ihr und vor allem der Regierung zu denken geben, schließlich gibt sie sich im Gegensatz zu den vorhergehenden weitaus europafreundlicher.

Woher aber rührt das mangelnde Interesse der Tschechen an Europa? Die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hat eine einfache Erklärung parat, die auch für andere Staaten in Mittel- und Osteuropa gelte. „Sie haben sich bei der Europawahl nicht ausreichend vertreten gefühlt, weil sie so wenige Europaabgeordnete stellen“, meint Guérot, die sich aktuell mit der Zukunft der europäischen Demokratie beschäftigt.

„Ein großes Problem in diesen Ländern besteht darin, die Wähler davon zu überzeugen, warum sie überhaupt Abgeordnete in das Europäische Parlament entsenden sollen, wenn diese ohnehin nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, etwas zu verändern.“ Doch ist dem wirklich so? Bevölkerungsärmere Staaten verfügen – im Verhältnis gesehen – über mehr Mandate im Europäischen Parlament als Deutschland oder Frankreich. Ein Beispiel: In der kommenden Legislaturperiode werden dort 96 deutsche und 21 tschechische Abgeordnete sitzen. Auf die Einwohnerzahl bezogen ist Deutschland jedoch etwa acht Mal größer.

Dennoch: Deutschlands Dominanz in Europa habe viele Menschen in Tschechien, Ungarn oder der Slowakei vom Wahlgang abgehalten, glaubt Guérot. Sie hätten das Gefühl, die Geschicke der EU würden von Berlin aus gelenkt – auch weil sie glauben, die Politik werde von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. „Die kleinen europäischen Länder sind aus ökonomischer Sicht von Deutschland abhängig und fest in deutsche Produktionsketten eingebunden.“

Tschechische Politikwissenschaftler kennen andere Gründe für die geringe Wahlbeteiligung. Die meisten Bürger seien der Ansicht, die Europawahlen würden auf ihren Alltag so gut wie keinen Einfluss nehmen, meint Tomáš Lebeda. Eine weitere Rolle spiele seiner Meinung nach aber auch die negative Einstellung vieler Tschechen zur EU. Vor allem die politische Elite habe der Bevölkerung in der Vergangenheit das Gefühl gegeben, das Europäische Parlament sei etwas Schlechtes. In Teilen der Gesellschaft wirke noch die mitunter EU-feindliche Rhetorik der vergangenen Regierungen und allen voran die von Ex-Präsident Václav Klaus nach. Zudem mangele es den meisten Tschechen seiner Meinung nach an historischem Bewusstsein, glaubt Lebeda.

Radko Hokovský vom Prager Thinktank „Evropské hodnoty“ („Europäische Werte“) erkennt ein ausgeprägtes Desinteresse seiner Landsleute an der Politik in Brüssel. „Sie wissen einfach zu wenig über die europäische Staatengemeinschaft.“ Wären sie besser über die EU informiert, würden sie sich auch mehr für sie interessieren und wären ihr gegenüber positiver eingestellt, erklärt Hokovský und zitiert aus zwei Studien, die nachdenklich stimmen: 42 Prozent der Tschechen vertreten demnach die Ansicht, dass sie optimistischer in die Zukunft blicken würden, wenn ihr Land nicht der EU angehörte. Zudem wüsste nur jeder dritte Tscheche den Namen eines Europaabgeordneten – in der Slowakei seien dazu immerhin 68 Prozent in der Lage.

Bei einer Debatte im Informationsbüro des Europäischen Parlaments in Prag diskutierten Experten vor kurzem über das Verhältnis der Tschechen zur EU. Gemeinsamer Tenor: Für den stark ausgeprägten Euroskeptizimus sind neben den Politikern hauptsächlich die Medien verantwortlich. In den Zeitungen erschienen zwar regelmäßig neutrale Beiträge über das Geschehen in Brüssel, doch die Kommentare darüber bezögen sich meist auf negative Aspekte, sagte Michal Kolmaš, Redakteur der Tageszeitung „Lidové noviny“. In anderen Medien werde viel zu selten über die EU berichtet. Eine Ansicht, die auch die Politologin Vladimíra Dvořáková vertritt: In Radio- und Fernsehsendungen werde fast nur über die EU gesprochen, wenn es zum Beispiel darum geht, dass sie „uns zwingt, das Wort Butter nur für richtige Butter zu verwenden“ oder der allmonatliche Umzug des EU-Parlaments vom Stammsitz Brüssel zur Plenartagung nach Straßburg viel zu viel Geld kostet.

Dass die Europäische Union in der tschechischen Medienlandschaft eine eher untergeordnete Rolle spielt, zeigt ein Blick nach Brüssel: Dort arbeiten lediglich drei akkreditierte Journalisten aus Tschechien – ziemlich wenige für ein Land, das von der eigenen Bevölkerung oft als „Herz Europas“ bezeichnet wird. Sogar in Albanien, dreimal kleiner als Tschechien und von einer EU-Mitgliedschaft sehr weit entfernt, scheint man sich mehr für die EU zu interessieren: Ganze zwölf Journalisten informieren ihre Landsleute auf dem Balkan regelmäßig über das Geschehen in Brüssel.