Europäische Sternstunde oder verhängnisvolle Entscheidung?
Aus wirtschaftlicher Sicht haben die Tschechen von zehn Jahren EU-Mitgliedschaft profitiert. Dennoch sind sie euroskeptischer denn je. Beobachter meinen, das Erbe der Ära Klaus sei nicht nur negativ
29. 4. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: ČTK/Radek Petrášek
Unterschiedlicher hätten Premier und Präsident den 1. Mai 2004 nicht begehen können. Vladimír Špidla grinste am Dreiländereck mit Gerhard Schröder, dem polnischen Premier Leszek Miller und Erweiterungskommissar Günther Verheugen um die Wette. „Das ist eine Sternstunde Europas“, rief Schröder, während die drei Regierungschefs zwischen den Grenzgemeinden Zittau, Bogatynia und Hrádek nad Nisou mit vereinten Kräften das blaue Sternenbanner hissten.
Ein Zeichen wollte auch Václav Klaus setzen. Die zweitägige Feier entlang des einstigen Eisernen Vorhangs ließ das Staatsoberhaupt sausen, schnürte um Mitternacht die Wanderschuhe und machte sich auf den Weg zum 683 Meter hohen Gipfel des mittelböhmischen Bergs Blaník. Der Sage nach ruht im Inneren des Hügels der böhmische Nationalpatron, der Heilige Wenzel und seine Ritterschaft. An jenem Tage, an dem es dem tschechischen Volk am schlimmsten erginge und nur noch übernatürliche Kräfte es erretten könnten, soll sich der Legende nach eine Felswand öffnen und die schlafenden Ritter in den Kampf ziehen. Laut Klaus war dieser Tag gekommen, als Tschechien vor zehn Jahren der Europäischen Union beitrat. „Eine der fatalsten Entscheidungen unserer Geschichte.“
Im Grunde hat sich wenig geändert. Die Tschechen sind in ihrer Beziehung zu Brüssel gespalten. Špidla spricht auch heute noch – etwa im Interview mit der „Prager Zeitung“ – von der EU-Mitgliedschaft als „Erfolgsgeschichte“. Václav Klaus, der das Wort „Euroskeptiker“ und auch den Ruf der Tschechen als solche geprägt hat, sagt heute: „Es gibt keinen Grund zu feiern.“ Den proeuropäischen Kurs, den Tschechien heute einschlägt, nennt Klaus „seine größte Niederlage“.
Tschechien hat mit dem Kabinett Sobotka und dem neuen Burgherren Miloš Zeman die EU-freundlichste Volksvertretung seit langem und die Tschechen schätzen laut Eurobarometer die Staatengemeinschaft als Garant für Frieden und Freiheit und sind überdurchschnittlich gut über das Geschehen in Brüssel informiert. Aber: Nur 28 Prozent der Bevölkerung werten die EU laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CVVM als positiv. Im ostmitteleuropäischen Vergleich schneidet Brüssel damit in Tschechien bei Weitem am schlechtesten ab – in der Slowakei sind 46 Prozent mit der Mitgliedschaft zufrieden, in Polen gar 58 Prozent. Woher rührt der tschechische Euroskeptizismus? Ist die Unzufriedenheit begründet?
Zahlen sprechen für sich
Beim Blick auf die Zahlen lautet die Antwort eindeutig Nein. In den zehn Jahren der tschechischen EU-Mitgliedschaft sind – abzüglich der eigenen Abgaben – 333 Milliarden Kronen (laut heutigem Wechselkurs rund 12 Milliarden Euro) an Fördergeldern in den gemeinsamen Haushalt geflossen. Wirtschaftsanalytikern zufolge sind dadurch 75.000 Arbeitsplätze entstanden und laut der österreichischen Erste Group ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Tschechien um mehr als 71 Prozent gestiegen.
Noch deutlicher wird der positive Einfluss des Beitritts beim Blick auf die Exportdaten. Seit 2004 hat sich das Ausfuhrvolumen laut Angaben des Tschechischen Statistikamtes fast verdoppelt. Allein im Beitrittsjahr war das Exportvolumen um mehr als 25 Prozent auf über 1,7 Billionen Kronen nach oben geschnellt. 2012 exportierte Tschechien Waren im Wert von knapp 3,1 Billionen Kronen. Mehr als 80 Prozent davon gingen in die EU.
Nun rechnet das Václav-Klaus-Institut vor, dass sich die Zahlen auch relativieren lassen. So entspreche etwa der Reingewinn Tschechiens aus den EU-Fonds nur knapp einem Prozent des BIP im vergangenen Jahr. Die Kosten, die der Brüsseler Zentralismus verursache, würden den Nutzen der Strukturfonds schmälern, erklärte Klaus vor kurzem während einer Rede vor Studenten der Chemisch-Technologischen Universität (VŠCHT) in Prag. Zudem – und hier scheinen die Analytiker des Klaus-Instituts Ursache und Wirkung zu verwechseln – seien die Strukturfonds einer der Hauptgründe der Korruption in Tschechien.
Fest steht, dass sich die positive EU-Bilanz nicht so einfach in eine EU-freundliche Stimmung ummünzen lässt. Würde Tschechien heute so wie 2003 ein Referendum über den EU-Beitritt abhalten, die Bevölkerung würde sich Hochrechnungen zufolge dagegen entscheiden.
Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Median kritisieren die Tschechen viel stärker als etwa die Slowaken die EU als eine Institution, die ihre nationale Identität und Souveränität einschränkt oder einschränken könnte. Negativ bewerten die Tschechen auch den Einfluss von Bürokratie und EU-Regulationen auf ihr Privatleben. Angst haben sie vor den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise, die jedoch paradoxerweise die Tschechische Republik nur am Rande getroffen hatte.
Auch beim Blick auf die Parteiprogramme der euroskeptischen Parteien vor den Europawahlen fällt auf, dass sich die Kritik zumeist auf hypothetische Folgen einer stärkeren Integration richtet: Die ODS etwa lehnt Migrationsquoten ab und warnt vor einer Überfremdung in einem Land mit einem Ausländeranteil von knapp 4,2 Prozent. Die Euro-Einführung, zu der sich Tschechien mit dem Beitritt verpflichtet hat, lehnt die ODS ab, da man bei einer Rückkehr der Finanzkrise die Schuldenländer mitfinanzieren müsste.
Auffallend ist aber auch, dass in Tschechien – im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden – EU-Gegner in den Umfragen vor den Wahlen im Mai kaum ins Gewicht fallen. Zudem ist, mit Ausnahme der rassistischen Wahlkampagne der Úsvit-Partei, die Kritik an Brüssel eher zurückhaltend und auf rationale Argumente gestützt. Das schlechte Image der EU in Tschechien führen Experten wie der französische Politologe Jacques Rupnik und auch Beitrittspremier Špidla zum großen Teil auf den langjährigen Einfluss von Václav Klaus und der ODS zurück.
Und dass die tschechische EU-Skepsis in anderen Mitgliedsstaaten bei Weitem nicht nur mit Kopfschütteln aufgenommen wird, erkennt der frühere Erweiterungskommissar Verheugen in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur ČTK: „In Tschechen sehe ich eine proeuropäische Regierung, aber auch Leute, die Fragen stellen. Und das ist richtig. Wir können für die EU nur den richtigen Kurs einschlagen, wenn wir miteinander diskutieren.“
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“