Faszination Aero
Fans bewahren die alte tschechoslowakische Automarke vor dem Vergessen – auch in enger deutsch-tschechischer Kooperation
26. 10. 2020 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Bernd Hildebrandt
Man kann auch heute noch mit einem über 80 Jahre alten Fahrzeug eine Fernreise auf Bundes- und Nebenstrecken unternehmen. Selbst mit zwei Personen und viel Gepäck. Obwohl „1.300 Kilo Gesamtlast den 30 PS-Motor voll herausgefordert“ habe. Das schreibt Michael Strauch auf der Homepage der Aero-IG International – nicht ohne Stolz.
Anlass für seine Reise war eine große Jubiläumsfeier voriges Jahr in Prag. Dort versammelten sich Fahrer aus halb Europa mit 114 Aero-Wagen aller Bauarten – Roadster und Rennwagen, Limousinen und Lieferwagen. „Quasi ein Gegenbesuch“, so Strauch. Denn seine tschechischen Kollegen kommen schon seit fast 30 Jahren zu den Europatreffen der Aero-Freunde nach Deutschland oder Holland.
Knapp 400 Kilometer legte Strauch bis Prag zurück. Da sein Aero nur mit einem Schnitt von 50 km/h fährt, war ein Zwischenstopp in Chodová Planá (Kuttenplan) nahe Pilsen nötig. Autobahnen wollte er meiden, obwohl das Fahrzeug erlaubt wäre. Prinzipiell müsse man bei Reisen mit solch einem alten Auto darauf achten, die Route „nicht nach der kürzesten Entfernung auszuwählen, sondern nach Höhenmetern“. Der Aero könne auf ebener Strecke durchaus 70 bis 80 km/h erreichen. „Sobald aber ein Berg kommt, wird es schwierig“, erläutert Strauch. Denn das Fahrzeug hat nur drei Gänge – und erzielt bei einer Anhöhe daher auch nicht mehr als etwa 30 km/h. „Dann wird man zum Hindernis.“
In Prag erinnerten Aero-Freunde im Herbst 2019 an gleich drei Jubiläen: 100 Jahre Firmengründung und Flugzeugproduktion von Aero, 90 Jahre Autoproduktion – und 40 Jahre Aero-Interessengemeinschaft International (Aero-IG). Michael Strauch koordiniert deren Aktivitäten. Ihr gehören 160 Mitglieder aus Deutschland an, ebenso Fans in den Niederlanden, Frankreich, Österreich, Portugal, der Schweiz und selbst in den USA. Das Ziel: „Möglichst alle existierenden Aero-Fahrzeuge erfassen, originalgetreu restaurieren und bei Veranstaltungen im Fahrbetrieb demonstrieren.“
Strauchs Begeisterung für die tschechische Marke löste ein Foto in einer Zeitung aus. Ein Aero 10, rot. Den wollte er unbedingt haben. „Sah aus wie ein Micky-Maus-Auto. Mit Schwiegermutter-Sitz, den man hinten ausklappen kann und bei dem man sich so schön vorstellen konnte, dass Donald Duck dort sitzt.“ Dieses Auto hatte „einfach Charakter“. Damit entwickelte sich eine geradezu emotionale Bindung zu diesen Fahrzeugen, wie Michael Strauch gesteht.
Selbstverständlich steht bei ihm ein Aero-Fahrzeug in der Garage. Über die Jahre hat er fast die ganze Reihe erworben: Aero 10, Aero 18, Aero 30, Aero 50. Besonders hatte es ihm der 30er angetan. „Ein Cabrio, damals schon luxuriös ausgestattet.“ Strauch kommt ins Schwärmen. „Tür auf Höhe der Schulter. Kurbelfenster. Verdeck ab Windschutzscheibe nach hinten. Interessante Karosserie.“
Doch nicht nur die Fahrzeuge faszinieren ihn, sondern auch die Firmengeschichte von Aero. „Es waren schlechte Zeiten, das Unternehmen konnte keine Flugzeuge mehr verkaufen, also musste es nach neuen Produkten suchen, um sich über Wasser zu halten.“ Strauch zählt auf: Küchenwaagen, Beiwagen für Motorräder. Und eben auch „ein einfaches Auto, das mehr war als ein Motorrad, zwei Insassen aufnehmen konnte, dazu einen Notsitz hinten.“
Gerade weil es sehr einfach konstruiert war, nötigt es Strauch Respekt ab: keine Wasserpumpe, keine Benzinpumpe, kein Differenzial, keine Bremsen vorne, keine Ventile. „Ein nacktes Auto sozusagen, nur mit dem, was wirklich notwendig ist, damit ein Auto fährt – das ist genial konstruiert!“ Zumal es dadurch preiswert war. „Einen Aero konnte sich damals auch ein Arbeiter in einer Fabrik leisten.“
Auf ihrer Homepage zeichnet die Aero-IG die lange Firmengeschichte ausführlich nach. Die tschechischen Aero-Automobile wurden zwischen 1929 und 1946 entwickelt und gebaut – in einer Prager Flugzeugfabrik. Denn die „Aero továrna letadel Dr. Kabeš“, gegründet von Dr. Vladimír Kabeš, Vladimír Kouřil und Karel Merta gegründet, begann bereits am 10. Januar 1919 im Prager Stadtteil Bubeneč mit ihrer Arbeit. Sie sollte ursprünglich Flugzeuge von verschiedenen französischen Herstellern reparieren, die ins heutige Tschechien importiert wurden. Allerdings konstruierte das Unternehmen noch im gleichen Jahr einen eigenen Typ, Aero Ae 01.
Schnell wurde das Unternehmen zum größten Flugzeughersteller in der Tschechoslowakei und bezog deshalb ein neues Firmengelände in Prag-Vysočany. Bis 1938 wurden dort mehr als drei Dutzend Flugzeugtypen kreiert, meist für militärische Zwecke. Ab 1939 stand die Produktion unter deutscher Aufsicht, 1946 wurde Aero von den Kommunisten verstaatlicht und lieferte Flugzeuge an die eigenen Streitkräfte. Nach 1953 entstanden nahe Prag MIG-Düsenjäger, außerdem wurden dort Jet-Piloten in Trainingsprogrammen geschult.
Im Jahr 1991 wurde das Unternehmen privatisiert und in eine AG umgewandelt, es kooperierte eine Weile mit Boeing und fabrizierte auch Business-Jets und Hubschrauber. Im Oktober 2006 verkaufte der tschechische Staat seine Aero Vodochody a.s. samt Flugplatz an die tschechisch-slowakische Investment-Gesellschaft Penta.
Erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise schuf sich Aero ab 1929 ein zweites (kleineres) Standbein: die Produktion von Autos. Darin sah die Unternehmensleitung das Verkehrsmittel der Zukunft für die Masse. Weil sie jedoch selbst noch nichts von Autos verstanden, griffen die Aero-Eigner auf das Know-how des bekannten Konstrukteurs Břetislav Novotný zurück. Dieser entwickelte zuvor in den Räumen seiner Firma Košař das Modell Enka, den Vorgänger des heute legendären Aero 10. Gemeinsam mit František Kolanda eröffnete er eine Fabrik im Prager Stadtteil Karlín, in der insgesamt 30 Enka-Fahrzeuge vom Band liefen. Den Aero 10 präsentierten die Tschechen zum ersten Mal im Oktober 1929 auf dem Prager Autosalon. Und damit nahm die Auto-Produktion von Aero richtig Fahrt auf.
Nach dem Krieg gab es den harten Einschnitt: keine Autos mehr, nur noch Flugzeuge. Wie viele Fahrzeuge hatte Aero bis dahin gebaut? „Knapp über 13.000“, schätzt Michael Strauch. Und wie viele existieren heute noch? „Etwa zehn Prozent“, vermutet er.
Wer einen kaufen will, müsse heute etwa 15.000 Euro zahlen. Dafür bekomme er einen Aero „mit Note 3: technisch in Ordnung, reinsetzen, losfahren“. Für Strauch kein Nachteil. Schließlich müsse es „nicht immer Hochglanz“ sein. Im Gegenteil. Für den Würzburger wirkt ein altes Fahrzeug viel mehr, wenn es Gebrauchsspuren habe und benutzt wurde, mal ein Kratzer hier oder eine Beule dort. Viel besser sei das, meint Strauch, als wenn ein Auto immer nur frisch aus einem Laden komme.
Seit 1989 wirkt er in der Aero-IG International mit, seit 2009 ist er ihr Repräsentant. Strauch brachte neue Ideen in die Organisation ein, die kein Verein ist. E-Mails, Facebook – die IG will möglichst viele Infos möglichst vielen zugänglich machen. Vor allem die eigene Website sorgt für zunehmend Resonanz. Nicht selten suchen aufmerksam gewordene Interessenten in ihren Garagen und Schuppen nach alten Teilen. Und häufig finden sie dort auch welche, die etwa ihr Vater seit Jahren dort lagert.
Die Aero-IG wurde 1979 gegründet. Auslöser war, dass Ersatzteile immer knapper wurden und Unterlagen kaum verfügbar waren. Zunächst traten neun Aero-Fans in Kontakt, tauschten Erfahrungen über Reparaturen aus, informierten sich über Fanklubs anderer Automarken – und erweiterten ständig ihre Liste mit Interessenten. Auch mit solchen aus dem Ausland. So wurde die Aero-IG immer internationaler. Und bis heute gilt für sie als oberste Maxime: gegenseitige Hilfe. Dafür ist auch das umfassende Archiv nützlich.
Die Feiern in Prag organisierte letztes Jahr der „Aero Car Club“ (ACC), das tschechische Pendant zur Aero-IG. Er wurde bereits kurz nach dem Bau der ersten Aero-Autos in den 1930er Jahren in Prag ins Leben gerufen. Mit den Mitgliedern um Jiří Žítek verständigen sich die Deutschen meist mit Hilfe von Tschechen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben. Sie übersetzen auch Artikel aus der Klub-Zeitschrift „Aerovkář“, die der ACC viermal im Jahr veröffentlicht, mit Berichten über das Klubgeschehen, aber auch über neueste Erkenntnisse zur Geschichte der Aero-Fahrzeuge. Michael Strauch schreibt ebenfalls Beiträge dafür. So wird daraus quasi ein gemeinsames Magazin. Die Kooperation setzt sich bei Treffs fort, etwa in Harrachov (Harrachsdorf) oder Český Brod (Böhmisch Brod). Selbstverständlich mit 20 bis 30 Aero-Fahrzeugen aus Deutschland.
Corona hat allerdings auch die Planungen der Aero-Gemeinde fürs Jahr 2020 kräftig durcheinandergewirbelt. Die IG musste mehrere Termine absagen. Auch wenn es schwerfalle, wie Michael Strauch schon vor Monaten auf der Homepage anmerkte. Doch Mitglieder der Interessen-Gemeinschaft „gehören zum großen Teil zu den Risikogruppen“, daher sei Vorsicht geboten. Immerhin konnten sie ihr großes Europatreffen (dieses Mal in Osterfeld in Sachsen-Anhalt) durchführen. Wie jedes Jahr seit 1982. Und sie waren vor wenigen Tagen mit einem Messestand auf der Technorama in Kassel, um ihre Marke zu präsentieren, Gespräche zu führen und zu beweisen, dass Aero-Fahrzeuge auch heute noch fahrtauglich sind. Das sei sehr wichtig, betont Michael Strauch, denn das Interesse für Fahrzeuge vor dem Krieg und mit wenig PS lasse bei der Jugend spürbar nach. „Dafür begeistern sich fast nur noch Ältere, die diese Zeit selbst miterlebt haben.“
Zudem führt die Aero-IG zweimal im Jahr Workshops durch. In Werkstätten, um Probleme mit Motor oder Getriebe zu besprechen und zu klären, was kaputt ist und was noch repariert werden kann. In diesem Fall stellt sich oft die Frage nach Ersatzteilen. Doch „wer sie hat, gibt sie ungern her, solange er noch selbst ein Fahrzeug besitzt“, führt Strauch aus. Auch deshalb sei das Netzwerk der Interessen-Gemeinschaft so wichtig. Über diese Kontakte lässt sich herausfinden, wer welche Teile hat oder besorgen kann und wer sie hergibt. Nicht selten im Tausch.
Neue Teile einzubauen, verbiete sich. „Die Originalität muss erhalten bleiben“, betonen die Mitglieder. Dies mache ja erst das Originelle und den Wert der Fahrzeuge aus. „Gerade im Mutterland von Aero, wo die Autos längst als Kulturgut gelten“, wie Michael Strauch erfahren hat. Dort bestehe nur an solchen Fahrzeugen Interesse, die den Originalmotor vorweisen können. „Und nur so ist und bleibt ein Oldtimer auch ein Oldtimer“, stimmt der Franke zu.
Nach der Samtenen Revolution entwickelten sich viele Kontakte und Treffen zwischen deutschen und tschechischen Aero-Fans. „Die Marke wurde auch zu einer Brücke nach Tschechien, ein tolles Verbindungsstück“, erzählt Strauch. Zuvor war er, ganz klassisch, nur als Tourist in Prag. Dank seiner Affinität zu Aero lernte er nicht nur Tschechen kennen, bei denen er zuweilen übernachtete. Sondern auch das Land – bis hinüber ins Adlergebirge.
Sommerfrische in der Steiermark
Mediale Grenzgänger