Feuerwerk von Zahlen und bewegende Appelle

Feuerwerk von Zahlen und bewegende Appelle

Brünner Symposium: Vielfältiger Diskurs zwischen Deutschen und Tschechen über den Umgang mit der Flüchtlingskrise

6. 4. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Fotos: EaSI, J. Füllenbach

Die Flüchtlingskrise ist zu einer schweren Prüfung des Zusammenhalts in Europa geworden. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer und der für Ostmitteleuropa mit großen Hoffnungen verbundenen „Rückkehr nach Europa“ ist ein neuer Graben zwischen den 2004 und später der EU beigetretenen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten und dem „alten Europa“ entstanden. Vor allem die deutsche Politik der lange Zeit praktisch unkontrollierten und im Prinzip unbegrenzten Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen verstört im östlichen Mitteleuropa und wird selbst von Seiten der Regierungen bisweilen scharf kritisiert.

Vor diesem Hintergrund ist es nur zu begrüßen, wenn Deutsche und Tschechen mit zunehmender Intensität das Gespräch über alle mit der Flüchtlingskrise zusammenhängenden Fragen suchen: Die beiden Regierungen haben eine Arbeitsgruppe zu Migration und Integration gebildet, die im Januar 2016 ihre Arbeit aufgenommen hat; am 31. März und 1. April führte Staatsministerin Aydan Özoğuz als Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration in Prag hochrangige Gespräche mit tschechischen Regierungsmitgliedern. Am 19. April werden Vertreter der Wissenschaft aus beiden Ländern in Prag eine öffentliche Diskussion führen zum Thema „Die Flüchtlinge und wir: Tschechische Erwartungen und deutsche Erfahrungen“.

Der zivilgesellschaftliche Dialog hat am Wochenende vor Ostern im 25. Brünner Symposium von Ackermann-Gemeinde und Bernard-Bolzano-Gesellschaft einen Höhepunkt erfahren. Rund 300 Teilnehmer waren gekommen, überwiegend aus Tschechien und Deutschland, aber auch einige aus Österreich, der Slowakei und Polen. Drei Tage lang gingen sie aus verschiedensten Blickwinkeln der Frage nach: „Wie viel Vielfalt vertragen unsere Gesellschaften? Der Umgang mit Flüchtlingen in historischer und europäischer Perspektive.“

Unterschiedliche Konzepte
Die Organisatoren des Brünner Symposiums hatten einen guten Riecher, als sie schon im Frühsommer vergangenen Jahres den Umgang mit Flüchtlingen zum Leitthema wählten: Die Eröffnung des Symposiums fiel zusammen mit der Übereinkunft zwischen EU und der Türkei auf dem Europäischen Gipfel in Brüssel über die künftige Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise. Die Bewährung des neuen Ansatzes steht noch aus, und manche Teilnehmer in Brünn hielten mit ihrer Skepsis nicht hinter dem Berg. Aber dass zumindest die Chance gegeben ist, den weiteren Zuzug von Flüchtlingen und Migranten einzuschränken und sich verstärkt der riesigen Aufgabe der Integration der schon Angekommenen zuzuwenden, ist nicht zu bezweifeln.

In seinem Grußwort legte der deutsche Botschafter Arndt Freiherr Freytag von Loring­hoven in Brünn den Finger in die europäische Wunde: Es „stehen sich derzeit zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzepte gegenüber: Das eine setzt auf Abschottung. (…) Wir sollten davon Abstand nehmen, wenn wir nicht wollen, dass ein Land wie Griechenland in ein riesiges Auffanglager verwandelt wird und die europäischen Außengrenzen sich in eine mehrere tausend Kilometer lange Kette aus lauter Idomenis verwandeln. Die Bundesregierung setzt stattdessen auf einen anderen Ansatz, nämlich auf Steuerung und Reduzierung. (…) Auch wenn es kompliziert ist, streben wir an, dass alle Europäer einen gemeinsamen Weg gehen können.“ Das waren deutliche Worte, denen man in Tschechien gerne weites Gehör gewünscht hätte.

Podiumsdiskussion zu „Wer löst die aktuelle Flüchtlingskrise?“ im Brünner Theater Reduta

Die ganz überwiegende Mehrheit der auf dem Brünner Symposium Versammelten unterstützte nämlich im Grundsatz ohnehin diese Linie: Anerkennung der humanitären Pflicht, den in Not geratenen und Schutz suchenden Menschen zu helfen, offen zu sein für ihre Aufnahme und Integration in die Gesellschaft und der Vorstellung von einer „Festung Europa“ eben nicht anzuhängen. Davon, dass „im Ergebnis Deutsche und Tschechen mit Unverständnis aufeinander schauen“, wie der deutsche Botschafter mit Recht anmerkte, war in Brünn nichts zu spüren. Die Leitfrage, „wie viel Vielfalt vertragen unsere Gesellschaften“, konnte naturgemäß nicht abschließend beantwortet werden. Der Wunsch, ein hohes Maß an Vielfalt sollte in Europa – in Einklang mit den immer wieder beschworenen europäischen Werten – möglich sein, wenn nicht gar aktiv gefördert werden, klang in fast allen Beiträgen an.

Sehnsuchtsort Deutschland
Durch die Besetzung des Podiums für die abschließende Diskussion zur Frage „Wer löst die aktuelle Flüchtlingskrise“ stießen doch noch stärker divergierende Meinungen aufeinander. Tomáš Urubek brannte als Vertreter des tschechischen Innenministeriums ein regelrechtes Feuerwerk von Zahlen und Fakten ab, mit denen er belegen wollte, wie sehr die tschechische Regierung allgemein verkannt werde, da sie doch in Wahrheit alles unternehme, um den Flüchtlingen entsprechend den europäischen Übereinkommen Aufnahme und Schutz zu bieten. Dagegen hätten andere die Krise erst heraufbeschworen, indem sie den Boden der Dubliner Regeln ohne Absprache verlassen und einen unkontrollierten Zustrom hunderttausender Migranten mitverursacht hätten. Anna Šabatová, Tschechiens Ombudsfrau, und Magdaléna Vášáryová, slowakische Politikerin und Diplomatin, markierten den Gegenpol. Sie übten nicht nur deutliche Kritik an der Politik ihrer Länder (und darüber hinaus der Visegrád-Staaten insgesamt) und an der „Xenophobie“ der Bevölkerungen, sondern rissen die Zuhörer mit bewegenden Appellen zu Humanität, Offenheit gegenüber Fremden und vorbehaltloser Willkommenskultur wiederholt zu starkem Beifall hin.

Zum Glück war da noch Christoph Bergner (ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und Staatssekretär im Bundesinnenministerium sowie seit 2002 Bundestagsabgeordneter der CDU), der zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln und die Diskussion in der Realität zu erden versuchte. So hätte nach seiner Einschätzung die AfD aus der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt durchaus als stärkste Partei hervorgehen können, wenn nicht kurz vorher die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge wegen der Schließung der mazedonisch-griechischen Grenze drastisch zurückgegangen wäre. Deshalb komme es, so Bergner, „sehr darauf an, dass wir unsere europäischen Werte in einer Weise realisieren, die eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung findet.“ Denn die Menschen wissen, dass Europa im Zeitalter der digitalen Vernetzung „für viele hundert Millionen Menschen dieser Erde ein Sehnsuchtsort geworden ist und Deutschland ein Sehnsuchtsort innerhalb Europas.“ Da müsse man realistisch sein und vermeiden, „unter dem Druck, der durch diese Sehnsucht entsteht, überfordert zu werden. (…) Man kann nicht nur einem wohlmeinenden Impetus folgen, sondern man muss auch wissen, wie man die Dinge praktisch umsetzt.“

Zuhören statt belehren
Bei der Suche nach den Gründen für die krassen Unterschiede zwischen den politischen Ansätzen in Ostmitteleuropa und in Ländern wie Deutschland oder Österreich sowie anderen westeuropäischen Ländern kamen die unterschiedlichen historischen Erfahrungen zu wenig zur Sprache. Dabei hatte der deutsche Botschafter in seinem schon zitierten Grußwort darauf hingewiesen, dass die Rückkehr der Ost-West-Spaltung in der Flüchtlingsfrage kein unglücklicher Zufall sei, sondern sie habe ihre Wurzeln in der Geschichte. Ebenso erinnerte der österreichische Botschafter Alexander Grubmayr an die geschichtliche Erfahrung: „Ängste vor einer Bedrohung der nationalen Identität werden geäußert. Dabei prägten aber Vielfalt und Pluralität dieses Zentraleuropa über Jahrhunderte.“

Daran anknüpfend hätte man fragen können: Ist es nicht gerade eine Grunderfahrung der Menschen in Ostmitteleuropa, dass multikulturelles Zusammenleben vieler Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen, Bindungen und Interessen in gemeinsamen Staaten die Völker wiederholt in die Katastrophe geführt hat? Dass gesellschaftliche und politische Stabilität erst durch die Schaffung vergleichsweise homogener Nationalstaaten erreicht wurde? Gewiss eine Erfahrung, die der Vergangenheit in diesem Raum nicht ganz gerecht wird, die aber doch auf lange Sicht im kollektiven Gedächtnis eingebrannt ist? Sind nicht auch darin Wurzeln der geradezu hysterischen Reaktion auf die Zumutungen europäischer Solidarität in der Flüchtlingsfrage zu suchen?

Wenn dem so ist – und manches spricht dafür –, dann sind Wortmeldungen wie der Gastbeitrag von Staatsminister Michael Roth vom 1. April in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nicht gerade dazu angetan, das gegenseitige Verständnis zu fördern. Schon die Überschrift „Multikulti oder Wahnwitz der Gleichförmigkeit“ weist anklagend Gut und Böse zu. Und wer den Kurs (West-)Europas in Frage zu stellen und eigene Souveränität zu behaupten wagt, tut dies „mit berechnender Kaltblütigkeit“. Als „vorgestrig“ werden Gesellschaften gebrandmarkt, „die sich auf einem homogenen Verständnis gründen.“ Und wenn Roth meint, „nicht das Konzept des Multikulturalismus ist gescheitert, sondern dessen bisherige Umsetzung“, so könnte man ihm hier entgegnen, so ähnlich sei das auch mit einem anderen volkserzieherischen Konzept, dem Kommunismus, gewesen. Ja, wir teilen den Ansatz der Visegrád-Staaten gegenüber den Flüchtlingen nicht. Aber belehren stößt ab; zuhören, verstehen und dann überzeugen wären nötig.