Finger auf der Wunde
Das Filmprojekt „Gottland“ wirft einen untypischen Blick auf die Geschichte Tschechiens
27. 8. 2014 - Text: Julia MiesenböckText: Julia Miesenböck; Foto: APZ
„Gottland“ steht in großen Buchstaben am Zaun des ehemaligen Güterbahnhofs in Žižkov geschrieben. Auch wenn der Name es zunächst vermuten lässt, dreht es sich hierbei nicht um eine Neueröffnung des Museums, das dem tschechischen Sänger Karel Gott gewidmet war und 2008 nach nur zwei Jahren wegen finanzieller Probleme schließen musste. „Gottland“ heißt ein neuer Film, der von 19. bis 30. August seine Vorpremiere auf dem für verschiedene kulturelle Aktionen genutzten Bahnhofsgelände erlebt.
Fünf tschechische und slowakische Studenten der Prager Filmakademie FAMU haben den Cross-Genre-Film gedreht. In der Titelsequenz heißt es: „Jegliche Ähnlichkeit mit realen Ereignissen oder Personen ist nicht rein zufällig.“ Der dokumentarische Aspekt des Streifens lässt sich kaum übersehen, schließlich studiert das Regie-Team gemeinsam am Lehrstuhl für Dokumentarfilm.
„Gottland“ basiert auf Motiven des gleichnamigen Bestsellers des polnischen Journalisten Mariusz Szczygieł. In seiner Reportagensammlung erzählt Szczygieł die tschechische Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts anhand von außergewöhnlichen Schicksalen und Persönlichkeiten nach, deren Spuren sich bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Fünf der 15 Kapitel aus Szczygiełs „Gottland“ dienten den jungen Regisseuren als Inspiration für ihren Streifen, auf die titelgebende Episode über Karel Gott verzichteten sie.
Wie der Produzent Tomáš Hrubý anmerkt, ging es bei dem Filmprojekt nicht darum, Szczygiełs Buch zu adaptieren, sondern es weiterzudenken. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Dokumentationen stehen also nicht die Fakten im Vordergrund. Stattdessen zeigen fünf ganz unterschiedliche Episoden, wie verschieden die Regisseure an den Stoff herangegangen sind. So erzeugt Lukáš Kokeš bei seiner Darstellung der Baťa-Werke, die ohne einen einzigen Schnitt auskommt, eine Art filmisches Fließband. Der Charakter der monotonen Arbeit am Band, das längst nichts Außergewöhnliches mehr ist, wird anhand solcher Bilder deutlich spürbar.
Helden und Verräter
Die Liebesbeziehung zwischen Lída Baarová und Joseph Goebbels schildert Regisseur Petr Hátle nicht nur anhand persönlicher Erinnerungen der tschechischen Schauspielerin. Er inszeniert vor allem ein Gespräch, bei dem eine Darstellerin die bereits verstorbene Baarová verkörpert. Dass die Szene gestellt ist, wird nicht verborgen – im Gegenteil, man sieht sozusagen den Film über den Dreh eines anderen Films.
Wie die filmisch aufbereiteten historischen Episoden bis in die Gegenwart wirken, verdeutlicht auch die Geschichte des Letná-Hügels. Auf der Anhöhe über dem Prager Stadtzentrum thronte von 1955 bis 1962 das weltweit größte Stalin-Denkmal, seit 1991 befindet sich an seiner Stelle ein riesiges Metronom. „Ich denke, dass Stalin, der dort nur ein paar Jahre stand, auf eine Art und Weise auch noch heute dort steht. Die Menschen nehmen ihn wahr und denken an ihn. Im Grunde genommen beherrscht er noch immer den Platz am Letná, das war auch der Grund, warum ich mich für dieses Thema entschieden habe“, meint die Regisseurin der Episode Rozálie Kohoutová.
Für die Filmemacher verkörpert die Stelle bis heute einen wunden Punkt im Bewusstsein der tschechischen Gesellschaft. Sie initiierten deswegen eine Umfrage für ein fiktives Bauprojekt, bei der die Leute abstimmen konnten, welche bekannte Persönlichkeit sie gerne als Denkmal auf dem Letná-Hügel sehen möchten. Ihre Kampagne sollte auf die Bedeutung nationaler Helden für die Bevölkerung aufmerksam machen. „Auch in Gottland geht es um die Suche solcher Helden und Verräter, und über unsere Sicht auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts“, erklärt Hrubý. So untypisch wie die Werbung für diesen Film ist auch dessen Vertrieb: Der Streifen läuft nicht in regulären Kinos, sondern nur an ausgewählten Orten. So wolle man sich dem Kino-Mainstream widersetzen und eine andere Art des Filmschauens in einem außergewöhnlichen Ambiente ermöglichen. Seine offizielle Premiere soll der Film im kommenden Herbst beim Internationalen Filmfestival in Warschau feiern.
„Gottland“ – Fünf Filmepisoden
Die erste Episode mit dem Titel „86 400“ zeigt Bilder aus dem von Tomáš Baťa gegründeten Schuhkonzern, der in den Zwanzigern durch die Einführung des Fließbandes nach dem Vorbild von Henry Ford zum Weltmarktführer aufstieg. „Panenství Lídy Baarové“ („Die Jungfräulichkeit von Lída Baarová) von Petr Hátle beleuchtet das Verhältnis zwischen der tschechischen Schauspielerin Lída Baarová und Joseph Goebbels. Regisseurin Viera Čákanyová befasst sich in „Letící kůň“ („Das fliegende Pferd“) mit dem Schicksal des tschechischen Schriftstellers Eduard Kirchberger, der zur Zeit der Okkupation mit den deutschen Besatzern kollaborierte und später als Agent für den tschechoslowakischen Geheimdienst tätig war. Der vierte Teil „Místo Stalina“ („Der Platz Stalins“) von Rozálie Kohoutová setzt sich mit jenem Prager Ort auseinander, an dem sich das größte Stalin-Denkmal der Welt befand. Die letzte Episode, „Zdeněk“ (Regie: Klára Tasovská) erzählt vom Selbstmord des Schülers Zdeněk Adamec. Der 19-Jährige zündete sich im März 2003 aus Protest gegen politische und soziale Missstände am Prager Wenzelsplatz an – eine Tat, die dem Selbstmord von Jan Palach gleicht, der sich 1969 an derselben Stelle verbrannte, um ein Zeichen gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings zu setzen.
„Markus von Liberec“
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