Freiheit verpflichtet

Freiheit verpflichtet

Vor 40 Jahren begann die Arbeit an der „Charta 77“. Was lehrt sie heute?

15. 12. 2016 - Text: Corinna Anton

Als im Oktober ein Drittel der Senatoren gewählt wurde, blieben fast 85 Prozent der Tschechen zu Hause. Demokratische Mitbestimmung? Was kann man schon ändern, fragen sich viele. „Die da oben“ entscheiden doch ohnehin über unsere Köpfe hinweg. Wofür soll man sich einsetzen, warum Energie aufbringen, um etwas zu bewirken? Man kann es sich doch schließlich auch in den bestehenden Verhältnissen ganz gut einrichten. Und die Nachrichten schaut man lieber nicht, hat neulich erst eine Studentin gesagt. Das mache nur schlechte Laune.

Hat man dem etwas entgegenzusetzen? Einen Blick ins Geschichtsbuch vielleicht. Nicht einmal ein Menschenalter muss man zurückblättern, um einen passenden Satz zu finden: „Jeder trägt seinen Teil der Verantwortung für die allgemeinen Verhältnisse“, lautet er. Geschrieben haben ihn die Verfasser der „Charta 77“ vor 40 Jahren – und bald darauf zu spüren bekommen, was es heißt, „seinen Teil der Verantwortung“ zu tragen.

Am 10. Dezember 1976 fand in der Prager Wohnung des Übersetzers und Drehbuchautors Jaroslav Kořán ein Treffen statt, das heute als Geburtsstunde der „Charta 77“ gilt. Gekommen waren der spätere Präsident Václav Havel, an dessen fünften Todestag am Sonntag erinnert wird, der Schriftsteller Pavel Kohout, der Philosoph Jiří Němec, der Politologe Zdeněk Mlynář und der Historiker Václav Vendelín Komeda. Sie einigten sich darauf, eine Bürgerinitiative zu gründen, um auf Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei aufmerksam zu machen.

Vorausgegangen war unter anderem der Prozess gegen die Underground-Band „The Plastic People of the Universe“. Bei einem Konzert im Februar 1976 waren die Mitglieder der Gruppe verhaftet und viele überwiegend junge Konzertbesucher verhört worden. Andererseits war ein halbes Jahr vorher in Helsinki die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterschrieben worden. Die Teilnehmer – darunter auch die Tschechoslowakei – verpflichteten sich darin unter anderem, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren.

Die Initiatoren der „Charta 77“ beriefen sich auf die Schlussakte von Helsinki, als sie ihre Erklärung verfassten. Sie richteten sich an das Regime und riefen es auf, die geltenden Gesetze zu achten. Die „Charta 77“, schrieben sie im gleichnamigen Dokument, sei „keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit“. Sie wolle dem Gemeininteresse dienen, nicht eigene Programme politischer oder gesellschaftlicher Reformen aufstellen, sondern „einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht führen, insbesondere dadurch, dass sie auf verschiedene konkrete Fälle von Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte hinweist, deren Dokumentation vorbereitet, Lösungen vorschlägt“.

Doch das Regime nahm die „Charta 77“ nicht als freundliches Kooperationsangebot wahr. Die Polizei verhinderte die geplante Veröffentlichung am 6. Januar 1977. Die Verfasser hatten den Text vervielfältigt. Václav Havel, der Schriftsteller Ludvík Vaculík und der Schauspieler Pavel Landovský versuchten, mehr als 200 Abschriften in Briefkästen zu werfen. Drei wollten sie eigenhändig zustellen – an die Tschechoslowakische Nachrichtenagentur ČTK, an die Regierung und an die Föderalversammlung. Ihr Ziel erreichten allerdings nur wenige Sendungen, den Großteil beschlagnahmte die Staatssicherheit. In der Tschechoslowakei wurde der Text offiziell erst nach der Wende veröffentlicht. Es gelang jedoch bereits im Januar 1977, ihn ins Ausland zu bringen, wo ihn westliche Medien verbreiteten.

Im Inland mussten Verfasser und Unterzeichner der „Charta 77“ – zwischen Weihnachten und Silvester 1976 waren es bereits mehr als 240 – unmittelbar die Konsequenzen tragen. Das Regime startete eine Gegenkampagne, die bereits am 7. Januar ein Artikel im Parteiorgan „Rudé právo“ mit dem Titel „Čí je to zájem“ („Wessen Interesse das ist“) einleitete. Fünf Tage später folgte in derselben Zeitung der Text „Ztroskotanci a samozvanci“ („Versager und Selbsternannte“), der die Unterzeichner als „Diener und Agenten des Imperialismus, Käufliche oder Zionisten“ bezeichnete. Ende Januar unterzeichneten regimetreue Künstler bei einer Versammlung im Nationaltheater eine „Anticharta“.

Es blieb aber nicht bei verbalen Beschimpfungen. Unterstützer des kritischen Dokuments wurden verhaftet, verhört, ihre Wohnungen durchsucht und einige wurden gezwungen, das Land zu verlassen. Der Philosoph Jan Patočka, einer der ersten Sprecher der Initiative, wurde im März 1977 verhaftet und elf Stunden lang verhört. In Folge dessen starb er an einem Schlaganfall und Herzversagen. Václav Havel, der ebenfalls die Rolle eines Sprechers übernommen hatte, wurde ebenfalls verhaftet. Andere wie zum Beispiel Pavel Kohout wurden ausgebürgert oder mit Berufsverbot bestraft.

Doch trotz aller Repressionen setzte die „Charta 77“ ihre Arbeit fort. Bis November 1989 gab sie fast 600 Dokumente zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen heraus, unterstützte eine Reihe weiterer Initiativen und bereitete damit auch den Weg zur Samtenen Revolution. Bis ­Januar 1990 schlossen sich 1.898 Unterzeichner an, von denen 25 ihre Unterschrift auf Druck des Regimes öffentlich zurückzogen.

Zurück in die Gegenwart: Anlässlich des Jubiläums wird in diesen Wochen immer wieder der „Charta 77“ gedacht. Ansonsten wird sie heute aber meist dann in Erinnerung gerufen, wenn Initiatoren und ­Unterzeichner sterben – Menschen, die für Menschenrechte und Mitbestimmung kämpften, die gegen „die da oben“ aufbegehrten und Energie aufbrachten, um die Verhältnisse zu ändern. Und das in einer Zeit, in der es sein konnte, dass sie dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Der beste Weg, sie zu würdigen, wäre es ihnen gleichzutun.


Der Text der „Charta 77“ in Auszügen

* Zehntausenden von Bürgern wird es nur deshalb unmöglich gemacht, in ihrem Fach zu arbeiten, weil sie Ansichten vertreten, die sich häufig von den offiziellen Ansichten unterscheiden. Zudem werden sie häufig Objekt vielfältigster Diskriminierung und Schikane seitens der Behörden und gesellschaftlichen Organisationen; jedweder Möglichkeit der Verteidigung beraubt, werden sie praktisch zu Opfern einer Apartheid.

* Unzählige Bürger müssen in der Furcht leben, dass, falls sie sich ihrer Überzeugung entsprechend äußern, sie selbst und ihre Kinder des Rechts auf Bildung beraubt werden könnten.

*Die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung wird von der Zentralverwaltung aller Kommunikationsmittel sowie der publizistischen und kulturellen Einrichtungen unterdrückt. Keine politische, philosophische oder wissenschaftliche Ansicht, auch keine künstlerische Äußerung, die nur wenig vom engen Rahmen der offiziellen Ideologie und Ästhetik abweicht, kann veröffentlicht werden; öffentliche Kritik an gesellschaftlichen Krisenerscheinungen wird unmöglich gemacht; die Möglichkeit öffentlicher Verteidigung gegen unwahre und beleidigende Behauptungen seitens der offiziellen Propaganda ist ausgeschlossen.

* Viele wissenschaftliche und kulturelle Tätige sowie andere Bürger werden nur deshalb diskriminiert, weil sie vor Jahren Ansichten veröffentlicht oder offen ausgesprochen haben, die von der gegenwärtigen politischen Macht verurteilt werden.

* Weitere Bürgerrechte, einschließlich des ausdrücklichen Verbots, „willkürlicher Eingriffe in Privatleben, Familie, Heim oder Korrespondenz“ (…), werden auch dadurch bedenklich verletzt, dass das Innenministerium auf unterschiedlichste Weise das Leben der Bürger kontrolliert, zum Beispiel durch Abhören von Telefonen und Wohnungen, durch Kontrolle der Post, durch persönliche Überwachung, durch Hausdurchsuchungen, durch Aufbau eines Netzes von Informationen aus den Reihen der Bevölkerung.

* In Fällen politisch motivierter Strafverfolgung verletzen Ermittlungs- und Justizorgane die Rechte der Beschuldigten und ihrer Verteidigung (…). In den Gefängnissen behandelt man solcherart verurteilte Menschen auf eine Weise, welche die Menschenwürde der Inhaftierten verletzt, ihre Gesundheit gefährdet und darauf abzielt, sie moralisch zu zerbrechen.

* Die Verantwortung für die Einhaltung der Bürgerrechte im Lande obliegt selbstverständlich vor allem der politischen und staatlichen Macht. Aber nicht nur ihr. Jeder trägt seinen Teil Verantwortung für die allgemeinen Verhältnisse und somit auch für die Einhaltung kodifizierter Pakte, die dazu übrigens nicht nur Regierungen, sondern alle Bürger verpflichten. Das Gefühl dieser Mitverantwortlichkeit, der Glaube an den Sinn bürgerlichen Engagements und der Wille dazu, sowie das gemeinsame Bedürfnis, dafür einen neuen und wirksameren Ausdruck zu finden, hat uns auf den Gedanken gebracht, „Charta 77“ zu bilden, deren Entstehung wir heute öffentlich anzeigen.

* Durch ihren symbolischen Namen betont „ Charta 77“, dass sie an der Schwelle eines Jahres entsteht, das zum Jahr der Rechte politischer Gefangener erklärt wurde und in diesen Verlauf die Belgrader Konferenz die Erfüllung der Verpflichtungen von Helsinki prüfen soll.

Quelle: Hans-Peter Riese (Hrsg.): „Bürgerinitiative für die Menschenrechte“, Europäische Verlagsanstalt, Köln/Frankfurt am Main 1977

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