„Geht nicht? Gibt’s nie!“
Interview

„Geht nicht? Gibt’s nie!“

Wie wird das Jahr 2020? Zum Beispiel für einen tschechischen Zirkusartisten wie Antonín Navrátil-Rapolli

2. 1. 2020 - Interview: Klaus Hanisch

PZ: Worauf freuen Sie sich in diesem Jahr?
Antonín Navrátil-Rapolli (39), Jongleur: Ich freue mich auf meine Familie. Ich habe zwei Kinder – Claudia ist zehn Jahre alt und Marco ist sechs – und wir haben schon damit begonnen, richtig zu trainieren. Die Tochter macht Drahtseilakrobatik, derzeit noch wenige Zentimeter über dem Boden, irgendwann aber mal zwei Meter hoch. Und der Junge jongliert ebenfalls. Wir trainieren jeden Tag und haben alle Spaß. Ich freue mich, wenn sie wieder etwas Neues lernen – und sie freuen sich, wenn es ihnen gelingt und sie wieder ein neues Niveau erreichen.

Tägliches Training in diesem Alter – ist das nicht zu viel Stress für die Kinder?
Nein, sie haben Freude daran. Natürlich machen wir manchmal auch einen Tag Pause. Und manchmal haben sie keine Lust, weil ihnen ein Kunststück zu schwierig erscheint. Aber ich habe ihnen erklärt, dass der Ausdruck „das geht nicht“ bei uns nicht existiert. Wenn man jeden Tag probt, zwei oder drei Stunden lang, manchmal auch zweimal am Tag, dann klappt nach zwei, drei Monaten auch ein Trick, der ihnen anfangs unmöglich vorkam. Und dann haben alle ihre Freude. So ist unser Leben als Artisten.

Das heißt: Ihre Kinder reisen mit Ihnen von Engagement zu Engagement. Wie steht dies im Einklang mit der Schulpflicht?
Meine Frau ist selbst Artistin, unterrichtet aber auch die Kinder. Wir bekommen von der Schule den Lehrstoff und geben dorthin jede Woche eine Rückmeldung, auf welchem Stand die Kinder sind und was noch zu tun ist. Wenn wir frei haben, legen die Kinder in Tschechien Prüfungen ab. Dadurch erkennt die Schulleitung, dass sie fleißig lernen und sie werden ein weiteres Jahr befreit. Wenn sie bei Prüfungen allerdings durchfallen würden, dann hätten wir ein Problem. Aber bisher (klopft auf den Tisch) funktioniert das gut.

Zirkuskinder Claudia und Marco | © privat

Werden Sie in diesem Jahr mehr oder weniger Auftritte haben als zuletzt?
Die Anzahl bleibt wohl gleich. Januar und Februar sind ruhige Monate, die verbringen wir in unserem Haus in Prag. Von März bis Dezember sind wir wieder unterwegs. Das Jahr ist weitgehend ausgebucht mit Engagements, sowohl beim Zirkus als auch in Varietés.

Sie wissen also jetzt schon, wo Sie – sagen wir – im November auftreten werden?
Ich war gerade in Paris, dort war man mit mir zufrieden, deshalb werde ich mit einiger Sicherheit im November wieder in Frankreich auftreten. Ich war in diesem Jahr auch in Irland, letztes Jahr in Belgien, in Norwegen, ein paar Jahre auch in Deutschland.

Und vor November?
Ab März werde ich in Deutschland bei Zirkus Busch arbeiten. Er macht eine Märchen-Show mit Pferden und Indianern, dafür braucht er auch Kinder. Das machen dann meine beiden Kinder, und wir treten natürlich auch auf. Ich hatte auch wieder ein Angebot aus Irland, wo ich vergangenes Jahr erstmals beim Zirkus Fossett auftrat, dem irischen Nationalzirkus, der dort seit gut 130 Jahren eine Marke ist. Er veranstaltete zwei Monate lang einen Erlebnispark mit einem tollen Zelt, viel Licht und toller Tontechnik, ein absolutes Highlight. Da hatte ich aber schon bei Busch zugesagt.

Artisten-Ehepaar Navrátil | © privat

Hat das Interesse am Zirkus nach Ihren Erfahrungen in letzter Zeit eher nachgelassen oder ist es gestiegen?
Es ist keine einfache Zeit. Playstation, Internet und so weiter – vor allem bei jungen Leuten ist das Interesse am Zirkus geschrumpft. Auf der anderen Seite kann man mit einer guten Live-Show immer noch viele Besucher begeistern und gewinnen. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass meine Kinder in unserem Gewerbe eine Zukunft haben. Aber sie müssen top sein, richtig gute Artisten. Dann kaufen Zirkusunternehmen, Varietés oder Theater auch künftig noch ihre Nummern. Wer nur Durchschnitt ist, hat es schwer in unserem Job.

Sind Engagements jetzt für Sie als Jongleur einfacher zu bekommen, weil immer mehr Zirkusunternehmen unter dem Druck von Tierschützern auf Tiernummern verzichten?
Zwar gibt es im Zirkus weniger Tiere, dafür aber immer mehr Artisten, nun auch aus Ländern wie der Ukraine oder Russland. Dazu kommen viele neue Artisten, die in Zirkusschulen in Deutschland oder Frankreich ausgebildet werden. Das war vor 30 oder 40 Jahren ganz anders. Damals gab es nur Artisten aus Zirkusdynastien, wie aus meiner Familie. Deshalb bedeuten weniger Tiere keinesfalls mehr Engagements. Zumal es für Jongleure wie mich noch einmal schwieriger ist.

Aus welchem Grund?
Weil gerade tschechische Artisten auf Jonglage spezialisiert sind. Bei uns in Tschechien gibt es wirklich viele und gute Jongleure.

Wie zum Beispiel Mario Berousek und dessen Tochter Sharon. Ist er für Sie Kollege, Konkurrent oder gar Vorbild, weil er als schnellster Jongleur der Welt im Guinness-Buch der Rekorde steht?
Wir waren gemeinsam bei einem Zirkus in der Schweiz, als ich neun Jahre alt war und er 14. Damals habe ich oft auf ihn geschaut, denn er war älter und viel besser als ich. Doch heute arbeitet er hauptsächlich mit Keulen und ich bin auf Fußbälle spezialisiert, also auf eine andere Art von Jonglage. Ein Vorbild ist er für mich allerdings im Hinblick darauf, was er als Artist erreicht hat.

Und warum kommen gerade aus Tschechien so viele gute Jongleure?
(lacht) Vielleicht wegen der Tradition: Wir waren immer gut! Und weil jeder immer besser sein wollte als der andere, auch heute noch. Möglicherweise hat diese Konkurrenz untereinander dazu geführt, dass alle immer Jongleure werden und immer die besten sein wollten. Bis heute zeigen wir uns gegenseitig die neuesten Tricks – das spornt an. Außerdem kennen sich die Familien untereinander, wir sind alle befreundet.

Wann und warum wurden Sie Jongleur?
Ich habe mit sechs Jahren angefangen, mit meinem Großvater richtig zu trainieren. Er wollte zuerst eine Nummer mit Handstand und Kopfstand einüben. Aber nach einem Jahr sah er keinen Erfolg darin und meinte, das sei nichts für mich. (lacht) Deshalb begann ich zu jonglieren, das ging viel besser. So wurde ich Jongleur. Meinen ersten professionellen Auftritt hatte ich mit zwölf.

Wie lange arbeitet Ihre Familie schon im Zirkusbetrieb?
Ich habe Vorfahren in der Familie Kludský, eine sehr berühmte tschechische Zirkusfamilie, die früher einen Zirkus mit drei Manegen betrieb und unfassbar viele Tiere unterhielt. Ich gehöre schon zur siebten Generation.

Ihre Frau Helena ist auch Ihre Partnerin in der Manege, etwa bei einer Tempojonglage mit Keulen, wobei sie auch auf Ihrem Kopf und Ihren Schultern steht. Hat sie auch eine eigene Nummer?
Ja, sie hat eine Hundenummer und eine Tanznummer für Kinder. Ihr Vater Lumír Blahník und sein Bruder Jiří spielten schon als kleine Kinder Anfang der 1940er Jahre in einer Komödie mit dem Titel „Nebe a dudy“, auf Deutsch „Himmel und Hölle“. Der Film ist in Tschechien immer noch sehr populär und wird jedes Jahr zu Weihnachten gezeigt.

Lumír und Jiří Blahník in „Himmel und Hölle“ (1941) | © APZ

In Deutschland existieren verschiedene Zirkusunternehmen mit fast dem gleichen Namen – und in Tschechien arbeiten etliche Navrátils als Artisten, sogar als Jongleure, wie Sie und ihr Namensvetter Karel Navrítil. Das ist für Zirkusfreunde nicht immer einfach zu durchschauen.
Deshalb habe ich Rapolli als Künstlername angefügt. Ein Grund ist, dass es noch einen Antonín Navrátil in meiner Familie gibt. Vor Engagements wurde schon gefragt, ob ich der sei, der mit Leitern und Trapez auftritt. Das wollte ich nicht immer richtig stellen müssen. Ein zweiter Grund ist, dass mir mein Großvater das Jonglieren beigebracht hat und ich ihm sehr viel verdanke. Deshalb habe ich seinen Namen Rapolli angenommen. Karel Navrátil ist der Sohn eines Eigentümers des tschechischen Zirkus Humberto, auch ein Jongleur, doch mit ihm bin ich nur ganz entfernt verwandt.

Haben Sie auch noch Auftritte in Tschechien?
Nein, weil ich viel im Ausland unterwegs bin. Zuhause will ich meine Ruhe haben. Bei uns gibt es viele Zirkusse, aber nur eine Handvoll ist wirklich top. In Tschechien wäre ein Engagement auch schwierig, weil dort oft die Direktoren selbst auftreten – und nicht wenige von denen sind ebenfalls Jongleure.

Antonín und Helena Navrátil | © privat

Gibt es Unterschiede zwischen deutschen und tschechischen Zirkusbesuchern?
Die Deutschen sind ein gutes Publikum, auch die Österreicher sind toll. Sie lieben unsere Kunst. Die Leute sagen Danke, bevor sie nach Hause gehen, anders als etwa die kühlen Norweger. Sie mögen den Zirkus, aber sie zeigen es nicht. Auch die Tschechen müssen erst dazu ermuntert werden, ihre Begeisterung zu zeigen. Dann dauert es noch einmal 20 Minuten, bis sie soweit sind.

Bei Ihrem Auftritt jonglieren Sie fünf Fußbälle mit Hand und Kopf. Dafür braucht man sehr viel Ballgefühl. Kam Ihnen irgendwann in den Sinn, Fußballer zu werden?
Ich liebe Fußball und spiele gerne, wenn wir frei haben. Ich spiele auch ganz gut, aber ob es zum Profi reichen würde, weiß ich nicht, trotz meines Ballgefühls. Da kommen noch ganz andere Dinge dazu, wie Taktik oder noch mehr Kondition, als wir haben.

Müssen Sie noch für Ihre Nummer üben oder ist sie perfekt?
Perfekt wird man nie! Ich muss immer noch jeden Tag trainieren, wenn auch weniger als früher. Manchmal nur, um Bälle oder Keulen in der Hand zu haben. Wenn ich zwei Wochen lang nicht trainieren würde, wäre das Gefühl dafür schnell weg. Wenn ich zweimal am Tag auftrete, muss ich mich jeweils eine halbe Stunde vor der Show aufwärmen. Dann reicht es aus, wenn ich morgens nur noch eine Stunde trainiere. Richtiges Training bedeutet, mindestens drei oder vier Stunden am Tag zu üben.

Dieses Jonglieren mit so vielen Bällen erfordert hohe Konzentration. Brauchen Sie dafür besonders viel Disziplin, frühe Bettruhe und so weiter?
Ja, schon, aber einmal hatte ich 40 Grad Fieber, bin trotzdem aufgetreten – und fand mich selbst so gut wie nie. Es gibt eben auch viele Automatismen in einem Auftritt.

Jonglieren mit Köpfchen | © privat

Im Zirkus soll eine Nummer in der Regel nicht länger als acht Minuten dauern, weil sich Zuschauer dann zu langweilen beginnen. Wie viele Jahre „steht“ eine Nummer, bevor man sie ändern muss?
Es kommt darauf an, wo man arbeitet. Im klassischen Zirkus kam man eine Nummer über eine längere Zeit fortführen. Bei Shows wie Flic-Flac muss man sie öfter ändern, weniger die Tricks, dafür aber Musik und Kostüme. Ich mache meine Vorführungen seit etwa acht Jahren. Allerdings musste ich sehr viel Zeit und Energie aufwenden, bis ich auf dem heutigen Level war. Ich arbeite viel mit Musik und es ist nicht einfach, etwas zu wechseln, das wäre praktisch eine ganz neue Nummer. Faustregel ist, dass man eine Nummer fünf bis zehn Jahre beibehalten kann.

Immer öfter sieht man Motorräder in Manegen. Gehen Nostalgie und Tradition des klassischen Zirkus damit allmählich verloren?
Natürlich ist das laut und dröhnend und hat nichts mehr mit Romantik und Träumen unterm Zeltdach zu tun. Aber die neue Generation von Zirkusbesuchern wünscht so etwas und verlangt immer öfter danach. Gerade dieser Programmpunkt gefällt mittlerweile vielen Gästen.

Haben Sie nach all den Jahren im Zirkuszelt noch Lampenfieber vor einem Auftritt?
Am ersten Tag immer, bei der Premiere. So lange bis klar ist, wie das Licht steht und andere technische Dinge funktionieren. Danach läuft es reibungslos. Es sei denn, man sagt mir wie unlängst vorher, dass heute ein Zirkusdirektor im Publikum sitzt, der mich engagieren will …

Weitere Artikel

... von Klaus Hanisch
... aus dem Bereich Gesellschaft
... aus dem Bereich Mišmaš

Abonniere unseren Newsletter