Gemeinsam in die Zukunft
Vorbildlich: Kontakte mit deutschen Vertriebenen – und mit tschechischen Entscheidern in der alten Heimat
2. 10. 2014 - Text: Aleš KrupaText: Aleš Krupa; Foto: Manka
Die Nachricht war hochoffiziell: Einstimmig beschloss der Gemeinderat von Karlovice, Objekte und Dokumente zur Dorfgeschichte aus dem Archiv des Vereins „Heimatgemeinschaft Karlsthal“ in Fürth zu holen und in seinem neuen Rathaus auszustellen. Dennoch sandte Bürgermeisterin Kateřina Kočí diesen Beschluss handschriftlich an Emil Hanisch, der diese Sammlung betreut. Ein deutliches Indiz dafür, wie groß die Verbundenheit der Gemeinde in Mährisch-Schlesien mit dem einst aus ihrem Ort Vertriebenen ist. Und das schon seit längerer Zeit. Denn schon über 20 Jahre vorher, im Oktober 1992, hatten beide Partner einen Kooperationsvertrag geschlossen. In Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Museum Bruntál (Freudenthal) vereinbarten sie damals, in einer ehemaligen Sensenhütte ein Museum über die Entstehung und Entwicklung der Region nach didaktischen Aspekten zu entwickeln. Vermittelt werden die Besiedlung, Industriekultur, Land- und Forstwirtschaft und touristische Aspekte.
Karlovice, auf Deutsch Karlsthal, liegt in Mährisch-Schlesien am Rande des Altvatergebirges (Jeseníky). Der Ort hat eine lange Geschichte. Schon um 1200 wurde aus dem Fluss Oppa (Opava) Gold gewonnen. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts waren drei Hochöfen und Metall-Hammerwerke in Betrieb. Es gab dort Bleicher, Holzfäller und Köhler.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Karlsthal ein bedeutender Kur- und Touristenort, mit bis zu 5.000 Übernachtungsgästen in der Ersten Republik. Sie kamen vor allem in die Prießnitz-Wasserheilanstalt, benannt nach dem Wassertherapeuten Vincenz Prießnitz. Die Blütezeit des Kurbetriebes endete nach dem Zweiten Weltkrieg, danach gab es jedoch weiterhin Reha-Patienten.
„Kurzfristig und mit 20 Kilo Gepäck“ musste sich Emil Hanisch im September 1946 mit seinen Eltern zum Transport weg von der Heimat einfinden. Die Familie gehörte zu den letzten deutschen Bewohnern, die Karlsthal verließen. Zuvor hatte sein Vater noch die Ernte einbringen müssen, wie er sich erinnert. In der Bahn wurden 1.600 Personen aus dem Kreis Freudenthal in 40 Waggons abtransportiert. Der 13-Jährige suchte sich einen Platz ganz oben im Zug. „Durch ein Astloch habe ich während der Fahrt ganz Böhmen kennengelernt“, blickt Hanisch zurück. Wie viele junge Leute in seinem Alter empfand er sie auch als kleines Abenteuer. Im Lauf der Jahre hat er zu einem emotionslosen Urteil über die Vertreibung und ihre Folgen gefunden: „Es war unabänderlich.“
Zuvor erhielt er in der höheren Schule bis 1945 noch Unterricht in Englisch und in der danach eröffneten neuen tschechischen Volksschule in Tschechisch und Russisch. Vor allem aber lernte er, weltoffen zu denken. Emil Hanisch lamentierte nicht über sein persönliches Schicksal und reihte sich auch nicht in den Kreis derer ein, die unentwegt die Vertreibung anprangern. Stattdessen ging Hanisch einen doppelten Weg. Er erinnert sich gemeinsam mit anderen, die wie er die Heimat verlassen mussten, an früher. Zugleich lässt er die Verbindungen in die alte Heimat nicht abreißen, sondern hat ständig Kontakt zur Verwaltung und den Menschen dort.
Im Jahr 1985 gründete Emil Hanisch aus dem Heimatkreis Freudenthal heraus die Heimatgemeinde Karlsthal als eingetragenen Verein. Er betreut die Mitglieder, hält den Kontakt untereinander, nimmt Anteil an ihrem Tun und Treiben. Und er veranstaltet jährliche Treffen, offen auch für solche, die sich nicht organisieren wollen. Zu ihnen kommen bis zu 350 Besucher, selbst aus den USA reisen ehemalige Bewohner dazu an. Zudem verfasst er den „Karlsthaler Heimatbrief“. Vierteljährlich und stufenweise wird darin die Ortsgeschichte aufgearbeitet und dokumentiert. Das achtseitige Faltblatt erinnert an das alte Karlsthal – und erklärt, wie es heute in Karlovice ist. Rund 800 Seiten hat Hanisch über die Jahre in seinen Heimatbriefen erstellt und etwa 1.600 Exemplare versandt.
Gelesen werden seine Zeilen weltweit, sogar von Karlsthalern in Australien. Und in Karlovice selbst. Zunächst nur von Deutschstämmigen und in der Gemeindeverwaltung. Eines Tages jedoch entdeckte ein örtlicher Fabrikdirektor den Heimatbrief, ließ ihn ins Tschechische übersetzen und im Dorf verteilen. Seitdem werden regelmäßig ein paar Dutzend Exemplare dorthin geliefert.
Emil Hanisch reiste schon in den frühen siebziger Jahren wieder in die frühere Heimat. Er nahm zunächst Kontakt zu den dort verbliebenen Bekannten auf. Denn nicht alle mussten Karlsthal nach dem Krieg verlassen. „Wer nachweisen konnte, dass seine Familie bis 1918 österreichisch war, durfte bleiben“, erklärt er. „Und einer wurde noch vor der Abfahrt aus dem Waggon geholt, weil ohne ihn eine Fabrik hätte stillgelegt werden müssen“, erinnert sich Hanisch. Dessen Sohn traf er erst vor wenigen Jahren in Deutschland, um ihm Wege für seinen beruflichen Werdegang zu öffnen.
In den achtziger Jahren besuchte Hanisch die drei Töchter jener tschechischen Familie, die Ende des Krieges im Haus seiner eigenen Familie einquartiert wurden. Einige Jahre später sah er nach seinem ehemaligen Lehrer im nahen Jägerndorf, heute Krnov. Dort traf er unerwartet auch die Pädagogin, die seinen schulischen Vorkurs geleitet hatte.
In Karlovice nahm er bald Verbindung zur neuen Verwaltung auf. Hanisch stellte sich als technischer Berater in den Dienst seiner alten Gemeinde. Er machte Vorschläge, stellte Kontakte her, gab Empfehlungen. Dafür prädestinierte ihn eine außergewöhnliche berufliche Karriere. Der Architekt realisierte Projekte in aller Welt für Werke der Fichtel & Sachs AG, die durch ihre Fahrräder sowie Kupplungen und Stoßdämpfer für Autoindustrie und Formel-1-Sport weltbekannt wurde. Und er baute im direkten Auftrag der Eigentümer, der Industriellen-Familie Sachs. Aufträge für Villen und Gebäude in St. Tropez, Paris, Genf, München oder St. Moritz, die Gunter Sachs gehörten, machten Emil Hanisch zum „Privatarchitekten“ des weltberühmten deutschen Playboy, wie die „Münchner Abendzeitung“ schrieb.
Gemeinsam mit den Bürgermeistern brachte er in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Vorhaben in Karlovice auf den Weg. So entstand in einem Gebäude, das bereits im 17. Jahrhundert eine Kantine für Arbeiter an Hochöfen und später ein Hotel und Gästehaus der kommunistischen Gewerkschaft war, ein neues Verwaltungsgebäude für die Gemeinde.
Als 1997 ein großes Hochwasser über Karlovice hereinbrach, organisierte der damals 64-jährige Hanisch mit anderen rund 25 Tonnen Hilfsgüter. Möbel, Herde, Haushaltsgeräte wurden gen Osten gebracht. Später kaufte die Bürgermeisterin auf seinen Rat hin ein altes Mühlengebäude aus eigener Tasche, um es für kommunale Zwecke auszubauen.
Emil Hanisch vergisst nicht die Vergangenheit, wendet sich jedoch entschlossen der Gegenwart zu. Deshalb führt er auch Vertriebene und heutige Ortsbewohner zusammen.
Schon 1991 besuchten 186 Karlsthaler auf offizielle Einladung der Gemeinde die Heimat. Betriebe wurden besichtigt, Kutschfahrten veranstaltet, Musikkapellen spielten – und zwei Fernsehteams berichteten. „Wir haben diese Woche wie einen großen Urlaub erlebt“, denkt er dankbar zurück.
Auch in diesem Jahr gab es wieder die Einladung zu einem großen Dorffest. Diese Begegnungen verlaufen nach seinen Aussagen vorurteilsfrei, ohne Hetze und Politik. „Es gibt dafür eine Ebene der menschlichen Zuwendung und Sympathie“, erläutert er. Hanisch wollte nie mit früher vergleichen oder eventuell Schlechte(re)s von heute sehen, sondern immer Hand in Hand das Neue gestalten. Auch bei der Erinnerung an das Gewesene. Gemeinsam mit der Gemeinde sorgte er dafür, dass Bildstöcke renoviert und Kreuze wieder aufgestellt wurden. Schon vor 30 Jahren pachtete er 56 deutsche Gräber auf dem örtlichen Friedhof, die teilweise bereits im 19. Jahrhundert angelegt worden waren und nun mit Hilfe von Spenden gepflegt werden. Zudem setzte er sich für den Erhalt des ehemaligen evangelischen Friedhofes samt Kapelle ein.
„Beinahe täglich“ stehe er in Kontakt mit Karlovice, sagt Emil Hanisch. Daraus entwickelten sich neue Freundschaften. Ihm wurde erlaubt, staatliche Dokumente einzusehen, um heimatkundliche Forschungen zu betreiben. In der Volksschule erteilte er Unterricht über die Ortsgeschichte, dem nicht nur 186 Schüler beiwohnten, sondern auch 17 Lehrer. „Die Wertschätzung die ich dort erfahre, bekomme ich sonst nirgends“, fasst Hanisch zusammen.
Unermüdlich versucht der 81-Jährige, eine gemeinsame Identität zu schaffen. Die vielen Bereiche, in denen er dafür aktiv ist, machen ihn zu einem Vorbild für eine gemeinsame deutsch-tschechische Zukunft. Denn zwischen den Menschen in Städten und Dörfern entscheidet sich, ob sie besser wird als die Vergangenheit.
Emil Hanisch bringt sein Handlungsmotiv auf einen einfachen Nenner: „Für mich gibt es keine Kommunisten oder Demokraten, Deutsche oder Tschechen. Wir sind und waren alle Karlsthaler!“
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