Gescheiterte Einheit
Gemeinsame Ängste hatten Tschechen und Slowaken 1918 vereint. Der gemeinsame Staat entfremdete sie einander
11. 12. 2013 - Text: Peter Münch-HeubnerText: Peter L. Münch-Heubner; Foto: Marian Gladis
Sie sind die größte Gruppe unter den internationalen Studenten an tschechischen Universitäten. Ihre Eintrittsexamen, viele Prüfungen und auch Abschlussarbeiten dürfen Studierende aus der Slowakei in ihrer Muttersprache ablegen und abfassen. Und oft studieren sie im Nachbarland, weil die tschechische und die slowakische Sprache einander so ähnlich sind. Ähnlich, aber nicht gleich, wie die Staatsdoktrin der Ersten Tschechoslowakischen Republik (ČSR), der sogenannte Tschechoslowakismus, das behauptete.
Diese Doktrin besagte, dass Tschechen und Slowaken ein Volk mit einer Sprache und einer Geschichte, ein Staatsvolk sind.
Das Konzept eines gemeinsamen Staates von Tschechen und Slowaken hatte während des Ersten Weltkriegs konkrete Formen angenommen. Exilorganisationen beider Volksgruppen in den USA spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Abkommen von Cleveland 1915 und Pittsburgh 1918 ebneten den Weg zur Staatsgründung 1918 in Prag, an der auch Vavro Šrobár beteiligt war. Šrobár bekannte sich als Slowake zum Konzept des Tschechoslowakismus.
Tomáš Garrigue Masaryk, Republikgründer und Symbolfigur tschechischer Politik, war der Sohn eines slowakischen Vaters. Er sprach davon, dass die Nation von einem gemeinsamen Geschichtsbewusstsein zusammengehalten werde. Doch die Geschichte, die er meinte, war die tschechische.
Zeit der Dunkelheit
In deren Mittelpunkt stehen Jan Hus und die Hussitenkriege, steht Böhmen als eines der Zentren der Reformation in Europa, aber auch die gewaltsame Rekatholisierung des Landes nach der Schlacht am Weißen Berg 1620. Die Enteignung und Vertreibung der protestantischen Stände und ihrer mehrheitlich tschechischen Vertreter, die „Zeit der Dunkelheit“ (temno) unter Habsburger Herrschaft – diese historischen Erfahrungen prägten das im 19. Jahrhundert erstarkende nationale Selbstbewusstsein der Tschechen. Sie bestimmten aber auch ihr Verhältnis zur Religion. Eine Politik, die in Böhmen, wo vor 1620 Religionsfreiheit herrschte, nur mehr den katholischen Glauben zuließ, hinterließ dort einen ausgeprägten Säkularismus.
Die Slowakei gehörte seit 907 zu Ungarn. Der katholische Glaube ist in der Bevölkerung tief verankert. Heute sind in der Slowakei 62 Prozent der Bevölkerung Katholiken. In Tschechien gehören 86 Prozent der Bürger keiner Kirche an. Sie sind nicht alle Atheisten. Viele Menschen haben bei der Volksbefragung des Jahres 2011 angegeben, gläubig, aber keine Kirchenangehörigen zu sein. Die Zeit des temno hat hier ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber jeder Form eines institutionalisierten Glaubens geschaffen. Dieser „dunkle“ Teil der Vergangenheit stellte die Grundlage des Geschichtsbilds des Tschechoslowakismus dar. Trotzdem gab es Slowaken, die diese Doktrin annahmen.
Flucht nach Oberungarn
Milan Rastislav Štefánik, der im Ersten Weltkrieg die Tschechoslowakischen Legionen aufbaute, hatte kein Problem damit, sich als slowakischen Patrioten und Tschechoslowakisten zu bezeichnen. Slowakische Lyriker und Dichter wie Jan Kollár und Pavel Jozef Šafárik hatten zuvor im 19. Jahrhundert ihre Werke in tschechischer Sprache verfasst. Sie alle gehörten der protestantischen Minderheit in ihrer Heimat an. Mit dem Anbruch der „dunklen Zeit“ waren Protestanten aus Böhmen in die Slowakei, das damalige Oberungarn, geflüchtet. Zusammen mit ihren dortigen Glaubensbrüdern bildeten sie eine neue Gemeinschaft. Dass der Tschechoslowakismus in der Slowakei nur diese Minderheit ansprach, ist oft zu lesen. Doch Vavro Šrobár war gebürtiger Katholik. Zwar trat er aus der Kirche aus, doch war dies nur ein Bruch mit der Institution, nicht mit dem Glauben. Der konservative Agrarier gründete noch 1946 die Christlich-Republikanische Partei, die katholische Wähler ansprechen wollte.
Bedrohte Identität
Seinen Lebenslauf teilte Šrobár in einem wichtigen Abschnitt mit anderen slowakischen Intellektuellen und Politikern: Sie alle hatten am Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Heimat erlebt, wie die Budapester Magyarisierungspolitik versuchte, ihre kulturelle Identität auszulöschen. Als alle Schulen geschlossen wurden, an denen auf Slowakisch unterrichtet wurde, gingen sie an Bildungseinrichtungen in Böhmen. Dort hatten sich die Verhältnisse nicht vollkommen, aber doch ein wenig geändert. Waren im 17. Jahrhundert Verfolgte der Gegenreformation in die Slowakei geflüchtet, so kamen nun von dort all jene, die nicht zu Ungarn gemacht werden wollten – und die nach jener Bildung strebten, die ihnen der ungarische Nationalismus verwehrte. An der Prager Karls-Universität entstanden slowakische Studentenverbindungen. Absolventen aus diesen Kreisen waren 1918 bereit für einen gemeinsamen Staat mit den Tschechen.
Zur geteilten Erfahrung der Fremdbestimmung kam nach dem Ersten Weltkrieg die Furcht, dass zwei voneinander getrennte Kleinstaaten angesichts bedrohlicher Nachbarn in der Nachkriegsordnung nicht überleben würden können: Im Westen wollten 1918 die Sudetendeutschen der ČSR nicht angehören und forderten den Anschluss an Deutschland beziehungsweise Deutschösterreich. Im Osten betrachtete auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Ungarn die Slowakei noch immer als Bestandteil des eigenen Staatsgebiets und wollte diesen Besitzanspruch militärisch besiegeln. Als tschechische Truppen in die Slowakei vorrückten, wurden sie dort als Befreier empfangen.
Ereignisse wie diese haben gemeinsame Ängste geschaffen, die auch nach der staatlichen Trennung von 1993 noch fortwirken. Als die nationalistische Politik eines Viktor Orbán bei vielen Slowaken die Furcht vor einem neuen magyarischen Griff nach ihrem Land schürte, zeigte die Prager Politik Verständnis für dieses Bedrohungsgefühl. Dass an die Angehörigen der ungarischen Minderheit in der Slowakei nach dem Willen Orbáns ungarische Pässe verteilt werden sollen, wurde 2009 vom damaligen tschechischen Präsidenten Klaus als ein beunruhigendes Zeichen für Budapester „Erweiterungsambitionen“ gewertet. Er korrigierte sich wenig später, betonte aber, dass die Nachkriegsgrenzen in Europa unveränderbar bleiben müssen. Diese Formulierung artikulierte zugleich immerwährende tschechische Ängste vor etwaigen sudetendeutschen Gebietsansprüchen Prag gegenüber.
Prager Zentralismus
Gemeinsame Ängste vereinten Tschechen und Slowaken 1918, der gemeinsame Staat entfremdete sie einander. Denn die ČSR wurde ein zentralistischer Staat. Sie war eine Demokratie. Das Slowakische aber wurde gemäß Staatsdoktrin nur als tschechischer Dialekt begriffen. Zentralismus entmündigt die Regionen und schwächt deren kulturelle Eigenständigkeit. Der Prager Zentralismus verschärfte das ökonomische Gefälle zwischen dem industrialisierten tschechischen und dem vorwiegend agrarisch geprägten und ärmeren slowakischen Landesteil. Lange Zeit forderten die großen slowakischen Parteien indes nur Autonomie, nicht Unabhängigkeit. Zerschlagen wurde die ČSR von außen, von Adolf Hitler. Nach 1948 wurde die Tschechoslowakei ein kommunistischer Zwangsverband, in dem beide Volksgruppen nicht freiwillig aufeinander zugehen konnten.
Heute scheint die Zweistaatlichkeit beide Seiten wieder einander näher zu bringen, denn sie können sich auf Augenhöhe begegnen. Orte der Annäherung sind wieder Universitäten. An der 1919 gegründeten Comenius-Universität in Bratislava wird die gemeinsame, aber mit Zwischenstrich versehene, tschecho-slowakische Geschichte gelehrt. Die Universität trägt auch heute noch den Namen des tschechischen und evangelisch-freikirchlichen Gelehrten Jan Amos Komenský, der nach seiner Flucht vor der Gegenreformation auch die Exilgemeinde seiner Böhmischen Brüder in der slowakischen Stadt Skalica besuchte.
Die Dinge zwischen Tschechen und Slowaken sind komplex und kompliziert. Sie waren und sind nicht so einfach voneinander zu trennen, wie man 1993 glaubte, wie sie auch nicht miteinander zu vermischen waren und sind, wie man 1918 gedacht hat.
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