Gräber suchen Pflegeeltern

Gräber suchen Pflegeeltern

Die städtische Friedhofsverwaltung gibt Ruhestätten bedeutender Persönlichkeiten zur Adoption frei. Sie will sie vor Verfall und Vergessen bewahren. Betroffen sind vor allem Gräber deutschsprachiger Bewohner

24. 6. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Správa pražských hřbitovů

Anderswo kann man Kinder adoptieren. Oder Patenschaften für Zootiere übernehmen. In Prag ist die städtische Friedhofsverwaltung auf der Suche nach Pflegeeltern. Knapp 200 Gräber hat sie bereits zur Adoption freigegeben. Von Juli an will sie außerdem per SMS Spenden für verwahrloste Ruhestätten sammeln. „Die Prager Friedhöfe und viele bedeutende Gräber sind in so schlechtem Zustand, dass wir systematisch und dauerhaft Abhilfe schaffen müssen“, sagt Martin Červený, Leiter der Friedhofsverwaltung.

Vor zwei Jahren, gleich nach seiner Ernennung, hat der Direktor das Projekt „Adopce významných hrobů“ („Adoption bedeutender Gräber“) auf den Weg gebracht – aufgrund der „hoffnungslosen Lage“, wie er heute sagt. Es fehlte an einem Konzept für den Erhalt der Grabmäler wichtiger Persönlichkeiten. Manche wurden an neue Eigentümer übergeben; die steinernen Hinweise auf die sterblichen Überreste einiger Künstler und Wissenschaftler verschwanden für immer. Und damit oftmals auch die letzte Erinnerung an fast schon in Vergessenheit geratene Menschen.

Die Friedhofsverwaltung will das mit der Möglichkeit der Adoption verhindern. Sie gibt dafür ausschließlich Gräber frei, die keinen Pächter haben. Sie müssen entweder einen besonders großen künstlerischen oder historischen Wert haben oder aber die sterblichen Überreste einer „nachweislich bedeutenden Persönlichkeit aus Kultur, Wissenschaft, Politik, Religion oder anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ bergen, heißt es in den Richtlinien. Aufgenommen werden aber auch Gräber „normaler“ Menschen, wenn es einen Paten gibt, der ausdrücklich für deren Pflege aufkommen möchte.

Bisher wurden 181 Gräber für das Projekt registriert. Im Juli werden 20 dazukommen, bis Ende des Jahres sollen es insgesamt 300 sein. „Das ist noch immer nur ein Bruchteil aller wertvollen ungepflegten Gräber, die wir in Zukunft aufnehmen könnten“, sagt der Initiator. Für fast 40 Prozent aller Gräber in Prag gebe es keinen Pachtvertrag. Die Zahl der erhaltenswerten ungepflegten Ruhestätten schätzt er auf 1.000 bis 2.000. „Ein großer Teil davon sind Gräber deutschsprachiger Bewohner aus dem 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das ist natürlich eine Folge der Abschiebung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Bisher sind für 77 Grabmale Pflegeeltern gefunden worden. Mithilfe von Spendengeldern wurden insgesamt 103 vor dem Verfall bewahrt. Die Kosten für die Restaurierung belaufen sich im Durchschnitt auf etwa 50.000 Kronen (knapp 2.000 Euro). Zu den Paten zählen Vereine und Kultureinrichtungen, aber auch Schulen, Kirchen, Botschaften und Privatpersonen. Ihre Motive sind verschieden. „Ein Liebhaber der Geschichte des Nationaltheaters hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gräber von Schauspielern der ersten Generation vor dem Verfall zu bewahren. Für vier hat er bereits eine Patenschaft übernommen und Interesse an weiteren bekundet“, freut sich Červený.

Die Fußballabteilung des SK Slavia ist Pflegefamilie des Grabs von John William Madden, genannt Dědek, auf den Olschaner Friedhöfen (Olšanské hřbitovy). Der Sohn irischer Auswanderer wurde 1905 erster offizieller Slavia-Trainer und führte für seine Zeit revolutionäre Methoden wie Rehabilitationsmaßnahmen für verletzte Spieler ein. Bis zu seinem Tod im April 1948 blieb er dem Verein treu und gilt Kennern heute als einer der Väter des tschechischen Fußballs. Für das Grab von Josef Božek dagegen steht die Technische Universität Prag Pate. Der 1782 geborene Mechaniker und Uhrmacher war an der Entwicklung der ersten Dampfmaschine im damaligen Österreich beteiligt. Die Pendeluhr, die er 1812 für die Sternwarte im Prager Klementinum anfertigte, diente bis 1984 dem Astronomischen Institut.

Für Städte und Gemeinden sei es oft eine Prestigefrage, sich um die letzte Ruhestätte ihrer berühmten Bürger zu kümmern, sagt der Leiter der Friedhofsverwaltung. So hat zum Beispiel das rund 2.000 Einwohner zählende Proseč die Patenschaft für das Grab der Schriftstellerin Teréza Nováková (1853 bis 1912) übernommen. Sie verfasste einen Teil ihrer vom ländlichen Realismus geprägten Werke in der ostböhmischen Kleinstadt. Das südlich von Pilsen gelegene Klatovy hat das Grab des dort geborenen Autors Václav Matěj Kramerius (1735 bis 1808) adoptiert. Er setzte sich für die Verbreitung der tschechischen Sprache ein und gab mit seinem eigenen Verlag Česká expedice mehr als 80 Bücher heraus, von denen er die meisten selbst schrieb oder übersetzte.

Manchmal seien die Beweggründe der Paten aber auch ausgesprochen persönlich, verrät Červený – so bei dem Inhaber einer Immobilienagentur, der auf dem Weg zur Arbeit oft am Grabstein des Dichters und Journalisten Karel Havlíček Borovský vorbeiging und dabei den Entschluss fasste, es restaurieren zu lassen. „Eine etwa 80-jährige Dame brachte mir eines Tages Bargeld ins Büro, weil es sie störte, in welch schlechtem Zustand die Gräber von Persönlichkeiten waren, die ihr am Herzen lagen.“

Um neue Paten zu finden, wird derzeit ein „Onlineshop“, so Červený wörtlich, eingerichtet. Auf ihrer Internetseite präsentiert die Friedhofsverwaltung bereits adoptierte Gräber und solche, die noch zu haben sind, mit Bildern und Informationen zu den Bestatteten. Wer nicht gleich die Verantwortung für ein ganzes Grab übernehmen will, kann sich ab Juli per SMS an der Spendenaktion beteiligen. Eine Kurznachricht kostet 30 Kronen, davon fließen 28,50 Kronen in den Erhalt der Grabstätten, die noch keine Paten gefunden haben. Die Aktion ist langfristig angelegt. Damit das Projekt laufen kann, sollten innerhalb von drei Monaten aber mindestens 300 Nachrichten eingehen.

www.hrbitovy.cz