Grenzenlos glücklich
Hrádek nad Nisou war einmal das Ende der Welt, sagt der Bürgermeister. Heute lebt es sich ganz gut im Dreiländereck, meinen die Einheimischen. Unterwegs in Tschechien, Polen und Deutschland
20. 4. 2016 - Text: Corinna AntonText und Fotos: Corinna Anton
Als der Zug in Hrádek nad Nisou zum Stehen kommt, regt sich Widerwillen. Die Stadt hieß früher einmal Grottau. In der Nähe liegt eine Burg namens Grabštejn. Von Hrádek kann man in wenigen Minuten zu Fuß nach Deutschland und nach Polen gehen. Aus dem Fenster konnte man gerade noch Hasen, Rehe und Hühner beobachten. Prag fühlt sich viel weiter weg an als knapp zwei Stunden und 130 Kilometer Bus- und Bahnfahrt. Wieder so eine Grenzstadt, ahnt man, eine doppelte dazu. Und dann auch noch in Nordböhmen – da will doch niemand aussteigen.
Der Bahnhof passt ins Bild. Ein bisschen heruntergekommen sieht er aus, ein bisschen ausgestorben. Die wenigen Passagiere, die ebenfalls nach Hrádek wollten (oder mussten), sind schnell verschwunden, die Wartehalle ist dunkel und leer. Nur ein roter Hut sticht hervor. Und ein Strauß Osterglocken.
Der Hut gehört einer Dame mit weißen Haaren, die sich eine Weile auf einer Holzbank ausruht. Die Blumen transportiert sie in ihrer Handtasche. Wie es sich hier lebt, an der Grenze zu Deutschland und Polen? „Na ausgezeichnet“, sagt die 74-Jährige. „Die Jungs im Rathaus machen wirklich eine gute Arbeit – auch wenn sie jetzt schon fast 50 sind.“ Sie wohne zehn Kilometer entfernt von Hrádek, in Bílý Kostel nad Nisou, erzählt sie, aber zum Seniorenclub fahre sie regelmäßig in die Grenzstadt, in der sie ihr Leben lang gearbeitet hat. In einem Textillager, das es nun nicht mehr gibt. Die Stadt habe sich verändert, meint sie, aber nur zum Besseren. „Wir bekommen Fördergelder für unsere Mitglieder im Seniorenclub, für Massagen und andere Aktivitäten, ich kann wirklich nur Positives sagen.“ Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit den Polen und den Deutschen. Da gebe es auf allen Seiten jede Menge „frojnčafty“, meint sie – und ist sich gar nicht bewusst, dass sie gerade ein Wort verwendet hat, das von der anderen Seite der Grenze kommt. Dann trägt sie ihren leuchtend roten Hut und ihre Osterglocken die Bahnhofstraße entlang in Richtung Post, um das Seniorentreffen vorzubereiten.
Wenn die Rentner hier schon nicht den alten Zeiten nachtrauern, dann haben gewiss die Jungen Grund zu klagen – im Spielwarengeschäft zum Beispiel. „Wir haben 2008 eröffnet, seitdem läuft es ganz gut“, sagt die Frau an der Kasse, während sich eine Kundin im Laden umschaut. „Kinder gibt es viele hier. Ich habe den Eindruck, es werden immer mehr.“ Und es werde einiges geboten im Ort, meint sie: Neue Spielplätze seien angelegt worden und ein Kino habe eröffnet. Die 40-Jährige und ihr Mann haben auch Kunden aus Polen und ein paar wenige aus Deutschland. Sie selbst fahren aber nicht zum Einkaufen über die Grenze. „Wir kaufen hier, damit unsere Wirtschaft sich entwickelt“, sagen sie.
Die Kundin hat sich inzwischen für ein Autoquartett entschieden und noch Zeit für einen Plausch. Die Stadt habe sich positiv verändert, sind sich auch diese drei einig, sie seien „sehr zufrieden“ mit dem Leben an der Grenze. „Naja, es ziehen halt Zigeuner hierher“, fällt dem Mann dann doch noch ein. Aber seine Frau korrigiert: „Wissen Sie, wir sind wenige, da fällt es auf, wenn sich zwei oder drei neue Romafamilien ansiedeln. Aber wir hatten noch nie Probleme mit ihnen.“
Ja, es würden gelegentlich Roma nach Hrádek ziehen, bestätigt Bürgermeister Josef Horinka. Aber sie seien für ihn Menschen wie alle anderen und hätten die gleichen Chancen, Hilfe von der Stadt zu bekommen wie die anderen Bürger. Senioren, Kindergruppen, Fußballclubs – die Stadt unterstütze alle gleichermaßen, sagt der 48-Jährige, der 2012 vom Stellvertreter zum Bürgermeister wurde. Angetreten ist er für die Vereinigung „Hrádek braucht Veränderung“, die sich nicht als politische Partei betrachtet, sondern sich einzig nach den Bedürfnissen der Bürger richte, wie Horinka meint.
Der Bürgermeister empfängt im violetten Hemd. Er ist in Hrádek nad Nisou geboren und aufgewachsen. „Bis 1989 waren wir eine Stadt am Ende der Welt“, sagt er. „Die Landstraße hat hier aufgehört und die einzige Verbindung nach Zittau war die Bahnstrecke. Es gab keinen offiziellen Grenzübergang, weder für Fußgänger noch für Autofahrer.“ Wer ins etwa drei Kilometer entfernte Zittau wollte, musste damals den Grenzübergang Varnsdorf-Seifhennersdorf nutzen – ein Umweg von etwa einer Stunde mit dem Auto. Auch ins angrenzende polnische Bogatynia gab es keinen direkten Weg – er führte über das rund 30 Kilometer entfernte Frýdlant.
Nachdem 1991 der erste Grenzübergang für Fußgänger und Radfahrer eröffnet wurde, habe Hrádek begonnen, sich zu verändern, erzählt der Bürgermeister. „Es gab die ersten Kontakte mit den Nachbarn. Hinzu kam in den neunziger Jahren der große Übergang für Autofahrer nach Polen, den man passieren muss, um nach etwa drei Kilometern Zittau zu erreichen. Hrádek hat sich für die Nachbarn geöffnet, auch deswegen ist es uns gelungen, viele nationale und europäische Fördergelder zu bekommen.“ Er trifft sich regelmäßig mit seinen Amtskollegen der sächsischen und der niederschlesischen Nachbarstadt. Sie sprechen über Verkehr, Kultur, Sicherheit und stellen gemeinsame Projektanträge. „Die Grenzen existieren für mich nicht“, so der Bürgermeister.
Zwischen Rathaus und Dreiländereck liegen etwa 30 Minuten Fußweg. Der Punkt, an dem die drei Staaten aneinandergrenzen, ist eine Wiese wie jede andere – mit dem Unterschied, dass westlich der Lausitzer Neiße eine deutsche Fahne weht, östlich die tschechische und die polnische, die nur ein kleiner Grenzbach trennt, und mittendrin die europäische. Es gibt einen Radweg, Bänke und eine kleine Brücke von Polen nach Tschechien. Nach Deutschland müsste man durch den Fluss schwimmen wie die Enten, die auf der Neiße unterwegs sind. Von einer Brücke, die alle drei Länder an der Stelle verbindet, träumen die Lokalpolitiker zwar, aber bisher gab es nur Fördergelder für binationale, nicht aber für trinationale Vorhaben.
„Die Grenze existiert für mich nicht“, sagt eine Polin – denselben Satz wie kurz vorher der Bürgermeister, aber sie sagt ihn auf Englisch, weil sie weder Deutsch noch Tschechisch kann. Die einzige Grenze, meint sie dann, könnte vielleicht die Sprache sein. Sie arbeitet für TV Bogatynia, einen regionalen Fernsehsender, lebt in der polnischen Grenzstadt und zeigt ihrem Besucher aus Danzig gerade das Dreiländereck. Die Nähe zu Deutschland und Tschechien, nach Berlin und Prag, sieht sie als Vorteil für die Region. Sie fährt auch gerne an die Seen auf der deutschen Seite der Lausitz und mag tschechisches Bier. „Viele Menschen aus Bogatynia arbeiten in Deutschland, weil sie dort mehr verdienen, manche auch in Tschechien, weil es dort viele Fabriken gibt. In Bogatynia haben wir nur den Kohleabbau und das Kraftwerk.“ Die 37-Jährige fühlt sich in Deutschland genauso wohl und willkommen wie in Tschechien und in ihrer Heimat.
Westlich der Neiße fährt gerade ganz langsam ein Polizeiauto am Fluss entlang, dreht dann um und verschwindet wieder. Die Menschen in Bogatynia hätten Angst vor den Flüchtlingen, die in Zittau nahe der Grenze untergebracht seien, erzählt die polnische Journalistin. Neulich habe sie einen Fernsehbeitrag darüber gemacht. „Ich habe versucht, die Fakten zu bringen und nicht meine Meinung. Die Fakten sind, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Sogar die Polizei in Bogatynia sagt, dass die Kriminalität nicht zugenommen habe.“
Dennoch gibt es solche Ängste, auch auf der tschechischen Seite. „Früher war es gut, dass die Grenze offen war“, hatte am Vormittag eine Verkäuferin in einer Bäckerei gesagt. „Aber jetzt wäre man froh, wenn sie wieder zu wäre, wegen der Flüchtlinge.“ Mit Blick auf die Zukunft war die 47-Jährige deshalb skeptisch. Aber sonst sei sie zufrieden in Hrádek. Die Stadt sei ruhig, es gebe viele Kunden. Und man könne Wurst oder Joghurt in Deutschland kaufen, weil dort manches besser und billiger sei. Dann hatte sie zwei finnische Vollkornstangen für zehn Kronen in eine Tüte gepackt. Kuchen gebe es heute leider nicht, weil die Konditorin krank sei.
Der Bürgermeister hatte zum Thema Flüchtlinge gesagt, dass die Medien und das Staatsoberhaupt leider Ängste schürten. Die Leute in der Region seien konservativ, wollten ihre Ruhe – und was Präsident Miloš Zeman im Fernsehen sage, sei ihnen heilig. Da käme es schon mal zu hysterischen Reaktionen, wenn eine neue Romafamilie in die Stadt ziehe – und die Einheimischen sie für Syrer hielten. Der Rathauschef konnte aber auch von einem Gegenbeispiel berichten: In Hrádek lebe bereits seit einiger Zeit eine Familie aus dem Irak und es sei fast niemandem aufgefallen. „Ich kenne einen Jungen persönlich vom Fußball, das sind ganz normale Menschen, die ihr Leben hier leben und niemanden stören.“
Vom Dreiländereck sind es nur ein paar Schritte bis zum tschechisch-polnischen Grenzübergang. Auf dem Fußweg kann man ihn leicht übersehen – und wundert sich, dass sich die Sprache auf den Straßenschildern plötzlich geändert hat. Die Straße, die von Hrádek durch ein kleines Stück Polen nach Zittau führt, wird von hohen Bäumen, vielen Tankstellen und einigen Ramsch-Ständen gesäumt. Andernorts hätte man sie früher Tschechenmärkte genannt oder heute Vietnamesenmärkte. Hier preisen polnische Verkäufer Zigaretten, Gartenzwerge und Haustierkäfige an. Zum gemütlichen Bummel lädt die „Allee der drei Staaten“ jedenfalls nicht ein.
Auch die Friedensstraße, die vom polnisch-deutschen Grenzübergang ins Zentrum von Zittau führt, bietet wenig malerische Fotomotive. Viele Häuser sehen verlassen und renovierungsbedürftig aus. Vielleicht findet man hier die graue Grenzort-Stimmung, die man in Hrádek nad Nisou vergeblich gesucht hat – vielleicht leidet hier ein Spielwarengeschäft an Nachwuchsmangel? „Etwas mehr Arbeitsplätze in der Industrie könnte es schon geben, aber im Großen und Ganzen lebt es sich bei uns hier ganz gut“, sagt die Verkäuferin, nachdem sie einen Vater mit seinem Sohn beraten hat. In die beiden Nachbarländer fahre sie oft mit dem Rad, von Grenzkriminalität habe sie zwar gehört, aber noch nie persönliche Erfahrungen damit gemacht, erzählt die 54-Jährige. Vater und Sohn haben sich unterdessen entschieden – für ein Autoquartett.
Ein paar Straßen weiter ist auch die Stadt nicht mehr so grau und kaputt – im historischen Zentrum ist ein Haus schöner als das andere und eine Konditorin versichert glaubhaft, dass sie nie im Leben woanders hinziehen würde. „Unsere gemütlichen Umgebindehäuser, die Oberlausitzer Mundart, die Berge, das Wetter in der Region“, zählt sie begeistert auf. „Und die drei unterschiedlichen Kulturen“, fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu.
Am Bahnhof von Zittau hat man auf die unterschiedlichen Kulturen auch Rücksicht genommen. Eine digitale Anzeigetafel zeigt sogar in vier Sprachen (Deutsch, Tschechisch, Polnisch und Englisch) an, wann der nächste Zug oder Bus abfährt. Eine Direktverbindung in die tschechische Hauptstadt gibt es nicht, aber einen „Dreiländerexpress“ über Hrádek nach Liberec. Die Fahrt dauert knapp 40 Minuten und kostet 1,95 Euro. Das Ticket bis nach Prag kann die nette Dame am Bahnschalter nicht ausdrucken. Auf ihrem Tisch liegt eine Broschüre mit dem Titel „Übersetzungshilfen für Mitarbeiter mit Kundenkontakt“, darauf ist eine englische und eine französische Flagge abgebildet. „Es ist wohl besser, die Fahrkarte von Liberec nach Prag kaufen Sie in der Tschechei“, sagt sie und wünscht eine gute Reise.
PZ-Serie: Leben an der Grenze
Ein Europa ohne Grenzen – das war einmal ein großer Traum für viele Menschen in der EU. Mittlerweile würden einige am liebsten die Grenzen wieder schließen angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen, die in Europa Zuflucht suchen. Die PZ besucht Orte an der Grenze und traf in Hrádek nad Nisou wie schon in Vejprty, Krásná u Aše und České Velenice auf Ängste und Vorurteile gegenüber Asylbewerbern – aber auf keinen einzigen Flüchtling.
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