Größenwahnsinnig und autoritär
Bedrohung oder Partner: „Ost-West. Europäische Perspektiven“ sucht einen Zugang zu Russland
1. 12. 2015 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: kremlin.ru/CC BY 4.0
Mit großer Skepsis kommentieren neun Autoren in der Aufsatzsammlung „Russland – Bedrohung oder Partner?“ die Entwicklung des Landes seit Mitte der neunziger Jahre: Die friedlichen Revolutionen der Jahre 1989 bis 1991, der Zusammenbruch der kommunistischen Regime und das Ende des Kalten Krieges zwischen West und Ost eröffneten den Beginn einer neuen Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen. Und sie bildeten eine Chance für eine Demokratisierung der russischen Gesellschaft.
Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die militärische Invasion in der Ostukraine haben im vergangenen Jahr den überwunden geglaubten Ost-West-Konflikt wieder aufleben lassen. Vorangegangen sind die Abkehr von einer Stärkung der Zivilgesellschaft, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die Missachtung der Menschenrechte und die Hinwendung zu einer gelenkten, autoritären Demokratie. Diese Entwicklung begann schon unter der Regierung Jelzins, der im Dezember 1993 durch eine neue Verfassung die Macht des Präsidenten in einem Ausmaß erweiterte, dass er zur Schlüsselfigur der russischen Politik wurde. Mit seiner Machtfülle förderte er eine Elite, die eine Mitsprache der Gesellschaft und der Öffentlichkeit immer mehr begrenzte. Die sogenannten Oligarchen eigneten sich den größten Teil des gesellschaftlichen Reichtums an. Ihr wichtigstes Ziel wurde die Übernahme des Präsidentenamtes mit Wladimir Putin, der in seiner ersten Regierungszeit die Macht der Oligarchen beschnitt, wobei er die Geschäftsleute von den politischen Entscheidungen ausschloss und eine Reihe von Militärs und Geheimdienstleuten in Führungspositionen berief.
Für Ruprecht Polenz, den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, verfolgt Putin eine Politik, die die europäische Sicherheit gefährdet. Mit der Annektierung der Krim und der militärischen Aggression gegen die Ukraine hätte Putin die Prinzipien der Charta von Paris aus dem Jahr 1990 verletzt, die den Frieden in Europa sichern sollten. Anschaulich wird der Paradigmenwechsel der russischen Politik in einem Vergleich der Siegesparaden vom 9. Mai auf dem Roten Platz im Jahr 2005 und 2015. Feierte man 2005 einen Tag des stillen Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, so wurde 2015 daraus ein „Fanal des Größenwahns“, bei dem Soldaten, Panzer, Raketen und Flugzeuge das Bild der Parade prägten. Russland habe damit demonstriert, dass es sämtliche moralische und materielle Verpflichtungen gegenüber dem Westen über Bord geworfen habe, kommentiert Polenz.
Putin, der angesichts des fallenden Ölpreises nur noch begrenzt die materiellen Wünsche der Bevölkerung befriedigen kann, so die These des Osteuropaforschers Roland Götz, versuche nun erfolgreich mit der Ideologie einer russischen Welt („Russkij mir“) die Menschen für seine autoritäre und antiwestliche Politik zu gewinnen. In dieser Ideologie mischt sich russischer Nationalismus mit einem religiös aufgeladenen Patriotismus. Wie Oleksandr Zabirko darlegt, bildet die Idee von „Russkij mir“ eine wichtige Legitimationsgrundlage für die militärische Aggression gegenüber der Krim und der Ostukraine. Der Begriff entstammt der imperialen Ideologie des 19. Jahrhunderts und wurde unter anderem von Schriftstellern wie Iwan Turgenew und Fjodor Dostojewski verwendet, die sich mit der Formel von der „heiligen Rus“ und dem „russischen Gott“ von der westeuropäischen Kultur abzugrenzen versuchten. Putin rechtfertigte die Annektierung der Krim und die Invasion in der Ostukraine („Neurussland“) mit der These, dass es dabei um die Rettung der eigenen „Landsleute“ gehe. Russland sieht sich als Garant der Gemeinschaft aller Russisch sprechenden Menschen, auch wenn sie Angehörige einer anderen Nation sind.
In welchem Ausmaß die Kreml-Ideologen den Abbau demokratischer Institutionen vorangetrieben haben, schildert Irina Scherbakowa von der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Anfang der neunziger Jahre entstanden in Russland hunderte vom Staat unabhängige Organisationen, die sich einer Vielzahl sozialer Probleme annahmen. Die Organisation „Memorial“ machte sich mit der Sammlung von Zeugnissen Verfolgter aus der Stalin-Zeit einen Namen. Mit dem Regierungsantritt Putins im Jahr 1999 ging der Staat immer härter gegen NGOs vor, er scheute auch vor Gewaltakten nicht zurück.
Der Verein Renovabis hat einen Aufsatzband vorgelegt, der „Putinversteher“ und Leute, die eine vermeintlich „lupenreine Demokratie in Russland“ verteidigt haben, nachdenklicher machen könnte.
Russland – Bedrohung oder Partner? Ost-West. Europäische Perspektiven. Heft 3/2015. Pustet-Verlag, Regensburg 2015, 77 Seiten, 6,50 Euro
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“