Gulag 2.0
Štěpán Černoušek arbeitet an einer Online-Gedenkstätte für sowjetische Straflager. Auch 25.000 Tschechoslowaken waren Opfer des Gulag
17. 2. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: Štěpán Černoušek/gulag.cz
In Štěpán Černoušeks Büro stapeln sich weiße Kartons. Sorgfältig nummeriert bewahrt der Wissenschaftler die Schätze auf, die er von seinen Expeditionen in die sibirischen Wälder mitgebracht hat. Tagebücher, Briefe, Handschuhe und Rasierer hat er in verlassenen Lagern des Gulag gefunden.
Spätestens seit Alexander Solschenizyn in den siebziger Jahren seinen literarischen Erfahrungsbericht über das sowjetische Straflager-System veröffentlichte, steht das Wort Gulag, die russische Abkürzung für die „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager“, auch in Westeuropa für den Horror des stalinistischen Unterdrückungsapparats. Štěpán Černoušek hat Russland lange studiert. Er ist Forscher, Publizist, Reisender – und nebenberuflich Vorsitzender des von ihm gegründeten Vereins Gulag.cz. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Erinnerungsarbeit zu leisten, die in Russland derzeit nicht möglich ist. Mit Historikern, Grafikdesignern und IT-Spezialisten arbeitet er an einem Online-Museum über das System der russischen Straflager. Seine gesammelten Exponate bewahrt er in den Kartons in seinem Büro auf.
Seine erste Expedition zu verlassenen Gulag-Lagern nach Sibirien organisierte Černoušek vor sechs Jahren. Der Russist hatte auf der Online-Landkarte zufällig Bilder von alten Gebäuden entdeckt. Er war überzeugt, dass es sich um ehemalige Lager handeln musste. Im Internet fand er keine Informationen darüber, das überraschte ihn. „Die Konzentrationslager der Nazis wurden in Gedenkstätten umgewandelt, man kann Auschwitz oder Birkenau besuchen, um etwas über das Thema zu lernen.“ In Russland sei das nicht möglich, sagt er. „Millionen sind dort gestorben.“ Aber nicht ein einziges ehemaliges Lager dient heute als Ort der Erinnerung.
Das Thema ließ ihn nicht mehr los. Er beschloss, sich die alten Lager selbst anzuschauen. Inzwischen war er schon drei Mal in Sibirien. Vor seiner letzten Reise fasste er den Plan, alles so gut wie möglich zu dokumentieren, detaillierte Aufnahmen von Baracken und allen gefunden Objekten zu machen, um damit ein virtuelles Museum aufzubauen. „Ich möchte der Öffentlichkeit in Tschechien und Europa zumindest im Internet zeigen, wie es im Gulag aussah.“
2013 flogen Černoušek und drei Mitreisende nach Krasnojarsk. Dort mieteten sie ein Boot und fuhren auf dem Fluss Turuchan nach Norden, 1.000 Kilometer in drei Tagen. Ein Helikopter brachte sie nochmal 200 Kilometer weiter, zu einer Wetterstation inmitten der Taiga. Mit Macheten schlugen sie sich den Weg durch den dichten Wald frei, bis sie endlich vor den Gebäuden standen, die Černoušek in Prag am Computer gesehen hatte. Einige von ihnen waren in der Zwischenzeit abgebrannt. Eine Enttäuschung. „Aber immerhin standen von manchen noch die Baracken, bei anderen war das Krankenlager noch gut erhalten oder die Isolationszelle.“
An der „Todesstraße“, wie Černoušek das Gebiet zwischen Salechard und Igarka nennt, dokumentierten sie eine Handvoll Lager. Sie wurden zwischen 1947 und 1953 entlang der Eisenbahnlinie errichtet, die Gulag-Häftlinge bauten. 1.500 Kilometer lang sollte die Strecke am Ende sein; fertig wurde sie nie. Nach Stalins Tod wurde die Arbeit eingestellt. „Deshalb sind diese Lager in vergleichsweise gutem Zustand. Sie wurden nur über einen kurzen Zeitraum genutzt“, erklärt Černoušek. Außerdem seien sie sehr weit von den nächsten Dörfern und Städten entfernt gewesen und daher nicht wie viele andere später Teile normaler Städte geworden – oder von Bewohnern der Nachbarorte zerstört worden.
Das virtuelle Museum wird auf dreidimensionalen Modellen der bis 1953 erbauten Lager entlang der Eisenbahnlinie aufbauen. Eines davon ist bereits auf gulag.cz zu sehen. Besucher der Seiten sollen etwas über das Leben in den Lagern und das Straflager-System erfahren. Černoušeks Kollegen vom Institut für das Studium totalitärer Regime haben dafür Augenzeugenberichte von rund 40 tschechoslowakischen Bürgern gesammelt, die den Gulag überlebten. Ungefähr 25.000 Tschechoslowaken wurden zwischen 1917 und 1960 Opfer von Repression in der Sowjetunion. Viele von ihnen flohen 1939 vor den Nazis oder aus Ungarn. „Sie wollten kämpfen, wurden stattdessen aber verhaftet und in ein Lager geschickt. Auch überzeugte Kommunisten, die auf eine neue Gesellschaft in der Sowjetunion hofften, landeten im Gulag.“ Typisch sei die Geschichte eines Tschechoslowaken, der 1939/1940 vor den Deutschen und den Ungarn floh, wegen illegalen Grenzübertritts in der Sowjetunion verhaftet und zu mehreren Jahren Lagerhaft verurteilt wurde.
Viele, denen es ähnlich ging, landeten in der Region Petschora, wo eine andere Eisenbahnstrecke entstehen sollte. „Es war ein hartes Leben mit sehr schwerer Arbeit“, sagt Černoušek. Die Rettung war für etliche ausgerechnet der Krieg. Im Jahr 1942 wurde eine Amnestie für tschechoslowakische Bürger erlassen, weil eine tschechoslowakische Division in der Roten Armee aufgebaut wurde. Zum größten Teil bestand sie aus ehemaligen Inhaftierten. Ein Häftling, der nach 1945 in seine Heimat zurückkehrte, hat dem Museums-Team einen Koffer überlassen, den er im Gulag selbst angefertigt hatte.
Vorsichtig holt Černoušek ein weiteres Exponat aus einem der weißen Kartons. Es ist ein gut erhaltenes kleines Tagebuch. Der Umschlag ist mit Birkenholz verstärkt; innen sind detaillierte Skizzen zu sehen, persönliche Notizen, Kritzeleien. „Der Besitzer war wahrscheinlich Ingenieur“, vermutet der Wissenschaftler. Der Koffer und das Tagebuch werden ebenso wie die Fotografien der Baracken zu Exponaten für das Online-Museum verwandelt. Dass ein solches Projekt ganz ohne russische Beteiligung nicht zu stemmen sei, ist Černoušek wichtig. „Es ist nicht so, dass die Russen über diesen Teil ihrer Geschichte nichts wissen. Sie wissen nur nicht, wie sie als Gesellschaft damit umgehen sollen.“
Mit dem staatlichen Gulag-Museum in Moskau gibt es zwar eine Ausstellung zum Thema, nur eben keine Gedenkstätte in einem ehemaligen Lager. Diese Lücke will Černoušek mit seinem Team füllen. Ein Problem sei die ambivalente Haltung der Russen zu ihrer Vergangenheit. „In Deutschland ist für jeden klar: Das Nazi-Regime war böse. Putin spricht aber positiv über die Sowjetunion und die breite Öffentlichkeit möchte nicht wirklich etwas über die Opfer des Kommunismus hören. Manche sind gut darüber informiert, ihre Stimmen sind aber nicht laut genug.“ Eine dieser Stimmen ist die unabhängige russische Organisation Memorial, die sich der Aufarbeitung der Geschichte des Gulag verschrieben hat und schon wiederholt in Schwierigkeiten mit der Staatsmacht geriet. Zusammen mit Memorial plant Černoušek eine vollständige Kartierung des Gulag. Er schätzt die Zahl der Camps auf ungefähr 10.000. Herauszufinden, wo genau sie alle lagen, wird dauern. Weitere Expeditionen sind schon in Planung.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ