Harte Zeiten und schlechte Moral
Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 4: Der Heinrichsturm
27. 7. 2016 - Text: Josef FüllenbachText und Fotos: Josef Füllenbach
Mitten in Prag, jedoch etwas abseits der Touristenströme und deshalb fast unbeachtet, steht der knapp 66 Meter hohe Heinrichsturm (Jindřišská věž). Schon vom Wenzelsplatz ist er in einiger Entfernung gut zu sehen, wenn man den Blick durch die Heinrichsgasse (Jindřišská) nach Osten richtet. Der Turm scheint geradezu den Abschluss der Straße zu bilden. Erst beim Nähertreten erkennt man, dass sie sich teilt, an beiden Seiten des Turms vorbei und zum dahinter liegenden Heuwaagsplatz (Senovážné náměstí), dem früheren Heumarkt, führt. Da die wenige Meter südlich gelegene Kirche selbst über einen Turm verfügt, erschließt sich die Funktion des Heinrichsturms nicht sofort. Denn um ein ehemaliges Stadttor kann es sich wegen der Entfernung zu den alten Stadtmauern nicht handeln.
Die Gründung der dem Kaiserpaar Heinrich II. und Kunigunde gewidmeten Kirche geht auf Karl IV. zurück. 1351 wurde der langgestreckte Pferdemarkt (heute Wenzelsplatz) zur Trennungslinie zweier neuer großer Pfarreien, in denen auf Geheiß Karls IV. jeweils mit dem Bau einer Pfarrkirche begonnen wurde. Während jedoch die Stephanskirche (Kostel sv. Štěpána) in der südlichen Neustadt vor ihrer Stirnfront einen mächtigen Turm mit beträchtlicher Tragkraft erhielt, erbaute man den Turm der Heinrichskirche seitlich an ihrer südwestlichen Ecke – und er fiel weniger mächtig aus. Wie sich bald zeigte, war er nicht stark genug, um einen Glockenstuhl zu tragen, der den Ehrgeiz und Stolz einer großen Pfarrei hätte befriedigen können.
Aus diesem Grund, so nimmt man bis heute vielfach an, wurde 1472 bis 1476 der Heinrichsturm gebaut. Inzwischen ist allerdings bekannt, dass es nach den Hussitenkriegen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein zwar immer wieder Geldsammlungen für den Bau eines stabilen Glockenturms gegeben hat, doch die Mittel reichten nur für ein Holzbalkengerüst neben der Kirche, an dem einige Glocken aufgehängt wurden. Provisorien erweisen sich oft als langlebig, so auch in diesem Fall. Noch aus dem Jahr 1562 stammt eine Stadtansicht, auf der neben der Heinrichskirche kein freistehender Turm zu erkennen ist.
Erstmals 1601 auf einer Vedute von Jan Willenberg ist deutlich zu sehen, wie der Heinrichsturm zu gleicher Höhe aufragt wie das in eine lange schmale Spitze auslaufende Zeltdach, das damals noch die Heinrichskirche krönte. Daraus und aus einigen aufgefundenen Schriftstücken aus der Korrespondenz des Kirchenamts mit der böhmischen Finanzverwaltung ist zu schließen, dass der Heinrichsturm erst in den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gebaut wurde.
Schon vor 1880 hatte Josef Mocker, deutsch-böhmischer Architekt und Restaurator (Bauleiter der ersten Phase der Fertigstellung des Veitsdoms), festgestellt, dass auf den behauenen Quadern, die das Mauerwerk des Turms (es ist bis hinauf zum Glockenstuhl zwei Meter stark!) verblenden, die für die Gotik typischen Zeichen der einzelnen Steinmetze fehlen. Stattdessen sind sie nach Art der Renaissance mit lateinischen Großbuchstaben gekennzeichnet, wie man sie auch an anderen Bauwerken aus der gleichen Zeit findet. Nach alledem muss der Heinrichsturm spätestens zur Jahrhundertwende 1599/1600 auf seinem heutigen Platz gestanden haben. Ein mächtiger imposanter Bau, damals noch eingefriedet von einer Mauer, die das große Grundstück mit Kirche, Friedhof und kirchlichen Verwaltungsgebäuden umgab.
Gesegnete Kugel
1787 wurde der Friedhof ebenso wie viele andere innerstädtische Friedhöfe stillgelegt. Weit vor der Stadt in östlicher Richtung hatten die Stadtväter in der Nähe des Weilers Olschan (Olšany) ein Areal ausgemacht, das fortan als wichtigste Begräbnisstätte Prags dienen sollte: die Olschaner Friedhöfe (Olšanské hřbitovy). Damals galten städtische Friedhöfe zunehmend als Quelle von Seuchen. So hieß es bereits 1659 über den Friedhof bei der Heinrichskirche: „Nahe der Kirchhofsmauer befindet sich ein Tümpel mit Löschwasser, unterhalb des Turms ein zweiter Tümpel, der unappetitlichen Gestank verbreitet. Leichen müssen in Lachen und Schlamm liegen; der nahe Garten ist schon verdorben, denn dort haben sich so viele widerliche Kriechtiere und Ungeziefer eingenistet, dass man es kaum erzählen kann, vor allem unzählige Skorpione.“
Nach der Einebnung des Friedhofs dauerte es noch vierzig Jahre mühsamer Verhandlungen zwischen Pfarrei und Stadtverwaltung, bis 1827 die Pfarrei den Streifen zwischen Heinrichsturm und -kirche hergab, durch den heute Straßenbahngleise und Bürgersteige führen. Doch hatten Turm und Gotteshaus weitaus schlimmere Stürme zu bestehen als den Anspruch der Stadt, die Verkehrsverbindung zwischen Wenzelsplatz und Heumarkt zu verbessern.
Eine erste schwere Prüfung bestand der Turm kurz vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahr 1648. Die Schweden hatten schon Burg und Kleinseite eingenommen und ausgeplündert und drängten darauf, noch vor Friedensschluss auch in Alt- und Neustadt einzudringen, wo sie ebenfalls auf reiche Beute hofften. Dank seiner Höhe und Lage diente der Heinrichsturm als hervorragender Beobachtungsposten, denn die Schweden führten ihren Hauptangriff gegen die Festungswerke am nahen Rosstor, wo heute das Nationalmuseum steht. Als sich die Angriffe den am meisten gefährdeten gotischen Stadtmauern näherten, die noch aus der Zeit Karls IV. stammten, diente der Turm auch zur Beschießung der Angreifer mit leichten Geschützen. Dieses Feuer war eine unschätzbare Unterstützung für die Verteidiger auf und hinter der Mauer, größtenteils Brauereigehilfen. 15 von ihnen fanden nach den Kämpfen in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof beim Turm ihre letzte Ruhe.
Einer Legende nach soll der damalige Pfarrer Šimon Tichý eine von den Schweden abgefeuerte und auf die Kirche zufliegende Kanonenkugel erblickt und sie geistesgegenwärtig sofort im Namen der heiligen Barbara gesegnet haben. Die gilt nämlich unter anderem als Patronin der Artillerie. Tatsächlich fiel die Kugel sofort herunter in den Friedhof. An der Stelle, wo sie niederging, wurde später die Barbarakapelle als Anbau errichtet.
Das weithin sichtbare Zeltdach der Kirche fiel 1745 einem Blitzschlag zum Opfer, weil das Feuer wegen Unzugänglichkeit des Brandherdes nicht zu löschen war. Es wurde danach durch ein einfaches Satteldach ersetzt. Seither ist der Heinrichsturm die alleinige Dominante der Gegend um den Heumarkt. Deshalb war der Turm während der fast drei Monate dauernden Belagerung 1757 durch die Preußen zu Beginn des Siebenjährigen Krieges ein leichtes Ziel der Artillerieschützen auf dem Veitsberg (Vítkov). Turm und Kirche erlitten erhebliche Schäden, die erst nach und nach beseitigt wurden.
Ein Unglück mit nachhaltigen Folgen war im Januar 1801 ein Wirbelsturm, der die Dachkonstruktion des Turms zerstörte. Herumfliegende Balken richteten weiteren Schaden am Dachstuhl der Kirche an. Wie sich später zeigte, war bei einer früheren Reparatur des Turmdaches gepfuscht worden, so dass die Konstruktion dem Sturm nicht standhielt. Der Turm erhielt ein provisorisches niedriges Dach, das sein Aussehen auf Jahrzehnte beschädigte. Die unruhigen Zeiten erlaubten keine kostspieligen Reparaturen nur um der Schönheit willen.
Turm im Turm
Erst 1878/79 erhielt der Turm im Rahmen einer Generalüberholung unter der Leitung von Josef Mocker im Wesentlichen sein heutiges Aussehen. Wie an vielen anderen Bauwerken in Prag beseitigte der Restaurator auch am Heinrichsturm Stilelemente der Renaissance, zum Beispiel die umlaufenden Gesimse und rechteckigen Eingangstore, und ersetzte sie durch (neu)gotische.
In beiden Weltkriegen wurden die Glocken – bis auf die älteste, die Marienglocke – für Kriegszwecke eingeschmolzen. Nach 1945/48 schwanden die Hoffnungen, dass die Glocken wiederbeschafft und die liturgische Funktion des Turms erneuert wird. Er blieb geschlossen und diente nur noch als Träger der weithin sichtbaren Uhr. 1971 erfolgten einige Reparaturarbeiten am Turm, aber erst nach der Jahrtausendwende erfuhr das Bauwerk eine weitere Generalüberholung, die es buchstäblich „in sich“ hatte und dazu führte, dass der Heinrichsturm sich am 12. Dezember 2002 wieder für die Öffentlichkeit öffnete.
Mit einer einzigartigen, äußerst schwierigen Ingenieursleistung war im bestehenden Turm ein neuer, moderner Turm entstanden, von außen unsichtbar, ohne die historische Substanz zu beeinträchtigen oder gar zu beschädigen. Eine komplizierte selbsttragende Stahlbetonkonstruktion von neun Stockwerken war in geringstem Abstand von den alten Mauern hochgezogen worden, ohne diese zu berühren. Der innere Turm beherbergt eine Kaffee- und Whisky-Bar sowie verteilt über drei Stockwerke eine Galerie über die Geschichte des Heinrichsturms und anderer Prager Türme. Auf zwei Stockwerken in Höhe der großen gotischen Fenster befindet sich das exquisite Restaurant Zvonice (auf Deutsch: Glockenturm oder -stuhl), das vor allem mit seinen Wildspezialitäten besticht. Es ist in den alten Glockenstuhl hineingebaut; die erhaltene Marienglocke aus dem Jahr 1518 hängt in einem Gastraum über den Tischen. Ganz oben kann man im zehnten Stockwerk den Dachstuhl bewundern – ein Meisterwerk der Zimmermannskunst aus dem Jahr 1879 – und aus den Erkertürmchen den weiten Blick über die Stadt Prag genießen.
Wie immer bei solchen Reparaturarbeiten, wurden auch diesmal die Zeitkapseln der aus Kupferblech gearbeiteten und vergoldeten Turmkugel entnommen und in einer feierlichen Zeremonie geöffnet. Sie enthielten Zeugnisse aus den Jahren der letzten beiden Reparaturen 1879 und 1971. Der Klempner Stanislav Pič hatte 1971 eine besonders mutige Nachricht für die künftigen Generationen hinterlassen: „Arbeit gibt es heute eine Menge, die Zeiten sind sehr hart, die Moral schlecht … Wenn Du einmal diese Dose öffnest, dann vergiss nicht die vergangenen Zeiten. Ich verabschiede mich und wünsche Euch viel Gesundheit und ein besseres Morgen.“
Bergsteiger legten die Kapseln wieder in die Kugel zurück, diesmal bereichert um Botschaften von 2002, unter anderen von Präsident Václav Havel, Erzbischof Miloslav Kardinal Vlk und Oberbürgermeister Pavel Bém – eine denkwürdige Mischung. Havel schrieb handschriftlich, „über Jahrhunderte ist dieser Heinrichsturm Zeuge der geschichtlichen Ereignisse, die Prag und die böhmischen Länder emporgehoben und erniedrigt haben“.
Auch früher war man um treffende Botschaften nicht verlegen. Als 1745 die Kugel vom Kirchturm fiel, fand man in der Zeitkapsel ein langes hussitisches Lied, in dem die Deutschen den Tschechen drohen: „Uns erwehrt ihr euch nicht, denn wisset, wir sind sehr stark, wir zählen mehr Köpfe, als ein Kübel Körner fasst!“ Und die Tschechen antworten: „Wir sind zwar nur ein kleiner Haufen, wie ein Löffelchen Senf, doch werden wir euch beißen, dazu helfe uns Herr Christus!“
Auf unbestimmte Zeit verschoben
Neue Formen des Unterrichts