Heimweh nach Prag
Der rastlose Joseph Roth fand in der böhmischen Metropole ein Zuhause – obwohl er nie dort gelebt hat
1. 6. 2016 - Text: Moritz RudolphText: Moritz Rudolph; Bilder: Stefanie Augustine und APZ
Zuweilen sehnt sich auch ein Kosmopolit nach Heimat. Joseph Roth, der große Romancier und Feuilletonist, der zeitlebens auf Wanderschaft war und in Lemberg, Wien, Berlin und Paris lebte, fand seine geistige Heimat in Prag. Zu der Stadt hatte er stets eine besondere Beziehung – auch wenn sie platonisch blieb. Denn nie hatte er in Prag einen festen Wohnsitz, aber immer Heimweh nach der Stadt, zu der er durch seine Artikel im „Prager Tagblatt“ seit 1917 Kontakt hielt.
Das Blatt hatte sich in derHabsburger Monarchie zur wichtigsten deutschsprachigen Zeitung außerhalb Wiens entwickelt. Seine politische Linie war liberal und demokratisch, modern, aber nicht modernistisch; Pathos hielt es aus seinen Texten heraus und hatte nicht zuletzt aus diesem Grund ein ausgezeichnetes Feuilleton, in das Roths Texte gut passten.
Roth arbeitete für das „Prager Tagblatt“ so lange wie für keine andere Zeitung. In 20 Jahren entstanden mehr als 170 Glossen, Feuilletons und Reportagen. Es gibt darunter aber seltsamerweise kaum Texte, die Prag selbst zum Gegenstand haben. Eine Ausnahme bildet der Artikel „Heimweh nach Prag“ von 1924. Doch selbst darin schreibt Roth in erster Linie über die Trostlosigkeit Berlins, die ihm Anlass ist, sich an einen anderen Ort zu sehnen. Die Liebe zu Prag entsteht ex negativo. Es gefällt ihm nicht in Berlin, da denkt er an Prag: „Es ist eine Stadt, in der ich niemals zu Hause war und in der ich jeden Augenblick zu Hause sein kann. Man braucht in Prag nicht verwurzelt zu sein. Es ist eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität.“
Tendenz ins Weite
Was er mit dem letzten Satz meint, erklärt Roth an anderer Stelle. In einem Artikel über das ostgalizische Lemberg heißt es: „Die Stadt demokratisiert, vereinfacht, vermenschlicht, und es scheint, dass diese Eigenschaften mit ihren kosmopolitischen Neigungen zusammenhängt. Die Tendenz ins Weite ist immer gleichzeitig ein Wille zur selbstverständlichen Sachlichkeit. Man kann nicht feierlich sein, wenn man vielfältig ist.“
Auch das Prag der Zwanzigerjahre war vielfältig. Tschechen und Deutsche, Christen und Juden lebten zusammen und konnten, weil das Andere immer an der nächsten Ecke lebte, das Eigene nicht ungebrochen feiern. So hielten sie sich mit Pomp zurück und pflegten einen sachlichen Umgang miteinander, der sich in Politik und Lebensführung ebenso spiegelte wie im „pragerdeutschen“ Stil, dessen Nüchternheit der in Prag geborene Schriftsteller Maxim Biller noch heute für sich reklamiert.
Im multikulturellen Prag war die Kulturtechnik der Ironie hoch entwickelt. Über einen Freund, den Roth fürs „Prager Tagblatt“ empfahl, schrieb er, dass dieser „ironisch genug“ sei, „um den Ton unserer geistigen Heimat Prag zu verstehen“. Der Schriftsteller Bohumil Hrabal sollte später eine spezielle „Prager Ironie“ feststellen, deren „Nährboden“ eben jene soziale Mischung war, die bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten bestand. Hrabal definierte diese Ironie so: „Sie ist der vergebliche Kampf um den Menschen und für seine Sicht auf die Welt, die ihn umgibt, sie ist der Kampf der Menschlichkeit gegen den bloß formalen Humanismus, sie ist die Schlacht gegen die allein selig machende Staatstheorie und den Apparat der Bürokratie.“
Dass man in Prag mehrere Weltdeutungen für möglich hält, weil schon der Nachbar eine andere hat, machte die Menschen zu nüchternen Skeptikern. „Aber sie lieben ihr Leben, das Leben in Prag.“ Roth sprach in höchsten Tönen von diesen „abstrakten Kosmopoliten“. Dank ihnen kam Heimat ganz ohne mythische Scholle aus und ohne Geschrei. Wer dazugehören will, soll herkommen, er muss sich nur auf eine gehörige Portion Skepsis einstellen, die man ihm – wie allen Dingen – entgegenbringt, die ihm aber letztlich ganz guttun wird: „Wenn sie sentimental in Paris, pathetisch in Berlin, sachlich und roh in Amerika geworden sind, flugs kehren sie nach Prag heim, in den Schoß der mütterlichen Skepsis und lassen sich auslachen, bis sie gesund werden.“
Über so viel Nüchternheit geriet Roth ins Schwärmen und sein Urteil über Prag wäre vielleicht skeptischer und nüchterner ausgefallen, wenn er dort einmal gelebt hätte. Aber so konnte es ihm Projektionsfläche für kosmopolitische Sehnsüchte bleiben, und vielleicht wollte er sie gar nicht durch Anwesenheit entzaubern. Joseph Roth starb am 27. Mai 1939 – in Paris.
Joseph Roth: Heimweh nach Prag. Feuilletons, Glossen, Reportagen für das Prager Tagblatt. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 640 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978-3-8353-1168-8
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?