Hilfe aus dem Osten?
Regierung will ukrainische Arbeitskräfte ins Land holen – Gewerkschaften fürchten Lohnstagnation
10. 8. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Fotos: APZ
Für Vladimír Dlouhý, den Präsidenten der Tschechischen Wirtschaftskammer (HK ČR), gab es Ende Juli einen Grund zu feiern. Die tschechische Regierung habe sich ausnahmsweise einmal vom gesunden Menschenverstand leiten lassen, erklärte er in den Medien. Vorausgegangen war der Entschluss der Regierung, einen Entwurf des Wirtschaftsministeriums zu unterstützen. Die zum 1. August in Kraft getretene Maßnahme soll die Einreise und Beschäftigung von Arbeitskräften aus der Ukraine erleichtern. Laut Dlouhý habe die Regierung endlich den Ruf der tschechischen Unternehmen erhört, denen zehntausende Arbeitskräfte fehlen.
Auch Wirtschaftsminister Jan Mládek (ČSSD) zeigte sich mit dem Ergebnis der Verhandlungen zufrieden. Eine große Rolle spielten dabei die gestiegenen Aufträge für tschechische Unternehmen und die damit verbundene Nachfrage an Arbeitskräften.
Vor allem die hiesige Maschinenbauindustrie klagt seit langem über einen Mangel an gering- bis mittelqualifizierten Arbeitnehmern. Am schwierigsten sei es für die Firmen, technisch orientierte Stellen in der Produktion zu besetzen.
Gefragt sind in erster Linie Schweißer, Fräser, Schlosser und Elektriker. Einer Analyse des Arbeitsministeriums zufolge blieben 22.000 Stellen in diesem Bereich unbesetzt. Laut Jaroslav Hanák, dem Präsidenten des Tschechischen Industrie- und Verkehrsverbands (SP ČR), fehlten den Unternehmen insgesamt bis zu 140.000 Arbeitskräfte.
Die Regierung will nun die Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließen. Helfen soll dabei vor allem die Ukraine. Bis zu 5.000 Arbeitnehmer mit technischer Ausbildung will der Wirtschaftsminister jedes Jahr ins Land locken. Neben den Löhnen, die in Tschechien höher ausfallen, stellt er ihnen auch Visa-Erleichterungen in Aussicht: Arbeitssuchende aus dem osteuropäischen Land sollen künftig mit weniger bürokratischem Aufwand eingestellt werden. Das im Jahr 2014 eingeführte System der „Arbeitnehmerkarten“ („zaměstnanecká karta“) würde laut Industrieverband zu langsam auf die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt reagieren.
Die vom Innenministerium ausgehändigten „Arbeitnehmerkarten“ werden derzeit für die Dauer eines Arbeitsvertrags vergeben und gelten maximal zwei Jahre. Danach muss sie der Arbeitgeber wieder verlängern. In der Praxis ist das Aushändigen der Karte an eine konkrete Stelle gebunden, die in einem zentralen Online-Register des Arbeitsministeriums eingetragen sein muss. Die Ausgabe einer solchen Karte dauert in der Regel zwei bis drei Monate.
Arbeit für ein Jahr
Nun soll das tschechische Konsulat in Lwiw (Lemberg) – das die „Arbeitnehmerkarten“ aushändigt – nicht mehr nur auf Anträge warten, sondern die Arbeitnehmer selbst aktiv ansprechen. Das neue System sieht eine Arbeitsbewilligung für ein Jahr vor, die der Arbeitnehmer verlängern lassen kann. Der gesamte Prozess sollte in wenigen Wochen abgeschlossen sein, da der Antrag direkt vom Konsulat bearbeitet wird. Zuvor mussten sich die Arbeitnehmer über das zentrale Visa-Register („Visapoint“) bewerben.
In Tschechien ansässige Unternehmen heißen die Maßnahme willkommen. „Qualifizierte technische Arbeiter zu finden, ist hierzulande wirklich ein Problem. Im vorigen Jahr haben wir zum ersten Mal im Ausland suchen müssen. Die Ukraine war eines der Länder, in denen wir erfolgreich waren“, sagte die Pressesprecherin des Stahlunternehmens ArcelorMittal Ostrava gegenüber der „Wirtschaftszeitung“ („Hospodářské noviny“). Auch der größte Arbeitgeber im Land, Škoda Auto, nimmt die Maßnahme eher positiv wahr: „Falls es den tschechischen Arbeitsmarkt nicht gefährdet, ist es eindeutig eine richtige Entscheidung“, hieß es aus der Pressestelle des Unternehmens. Gegenwärtig sucht der Autohersteller 2.000 Angestellte für eine neue Produktionsstätte in Kvasiny bei Hradec Králové (Königgrätz).
Die tschechischen Gewerkschaften bezweifeln hingegen die positiven Auswirkungen der neuen Maßnahme. Ihrer Ansicht nach ziele sie vor allem darauf ab, billige Arbeitskräfte ins Land zu bringen und somit die Lohnsteigerung zu verhindern.
Weniger als Arbeitslosengeld
Die Gewerkschaftsverbände argumentieren damit, dass die angebotenen Arbeitsplätze von tschechischen Arbeitnehmern nicht wahrgenommen werden, weil sie zu schlecht bezahlt sind. Laut dem Vorsitzenden des Böhmisch-Mährischen Gewerkschaftsverbands (ČMKOS) Josef Středula sei es notwendig, die Löhne deutlich über das Niveau des Arbeitslosengeldes anzuheben. Damit würden die Arbeitsstellen auch für einheimische Arbeitskräfte attraktiver.
Laut dem Tschechischen Statistikamt beläuft sich ein Bruttodurchschnittslohn hierzulande auf umgerechnet etwa 980 Euro. Ein Angestellter (verheiratet, zwei Kinder), der so viel verdiente, erhält in den ersten zwei Monaten seiner Arbeitslosigkeit rund 435 Euro, im dritten und vierten Monat 335 Euro, ab dem fünften Monat rund 300 Euro. Der Bruttomindestlohn beträgt zurzeit lediglich 365 Euro. In der Ukraine beläuft sich der Bruttodurchschnittslohn nach Angaben des dortigen Statistikamtes auf rund 190 Euro. Die Gehälter für Positionen mit mittlerer Qualifikation – etwa Schweißer oder Elektriker – bewegen sich in Tschechien zwischen umgerechnet 700 und 1.100 Euro. In Deutschland verdienen die Angestellten in vergleichbaren Positionen bis zu 3.500 Euro.
Die Ukrainer gehören hierzulande seit langem zu den zahlenmäßig größten Minderheiten. Offiziell lebten im vergangenen Jahr rund 467.000 Ausländer in Tschechien. Davon kamen etwa 105.000 aus der Ukraine.
Bekenntnis zu Břeclav
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