Hinter den Kulissen
Mit seinem Buch über den „Prager Frühling“ weitet der Historiker Martin Schulze Wessel den Blick auf die Ereignisse im Frühjahr und Sommer 1968
21. 8. 2020 - Text: Volker Strebel, Titelbild: Prager vor einem brennenden Panzer in der Straße Vinohradská am 21. August 1968
„Aufbruch in eine neue Welt“ lautet der Untertitel einer rundum gelungenen Studie über den „Prager Frühling“ des Jahres 1968, als tschechoslowakische Reformkommunisten den Versuch unternommen hatten einen „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ zu gestalten. Zugleich deutet der Untertitel eine Perspektive an, die über eine reine Beschreibung der historischen Vorgänge hinausreicht.
Das tschechoslowakische Reformexperiment begann im Januar 1968, als der bis dahin eher weniger bekannte slowakische Politiker Alexander Dubček einstimmig zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPČ gewählt worden war. Dubček, der seine Kindheit und frühe Jugend mit seinen Eltern in der Sowjetunion verbracht hatte und fließend Russisch sprach, galt als kommunistisches Urgestein. Er war zutiefst von der sozialistischen Idee geprägt, an der Errichtung einer freieren und gerechteren Gesellschaft mitzuwirken. Zugleich hatte er längst Einblicke in die Schattenseiten der stalinistischen Praxis erhalten. Insofern stellte der „Prager Frühling“ den Versuch dar, in der juristischen und politischen Aufarbeitung der Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begannen wurden, die gesellschaftspolitischen Ideale eines authentischen Sozialismus zu retten.
Martin Schulze Wessel hat diese dramatische Verzahnung anhand der Lebensläufe führender Reformpolitiker klar herausgearbeitet. Die Tatsache, dass einige der führenden Akteure in den 1950er Jahren selbst unter die Räder der stalinistischen Hexenjagden geraten waren und Folter wie auch mehrjährige Haftstrafen überlebt hatten, förderte in der Bevölkerung der ČSSR die Glaubwürdigkeit des neuen Kurses. Anhand der Lebensläufe führender Reformkommunisten wie etwa Josef Smrkovský, Josef Pavel oder Eduard Goldstücker belegt Schulze Wessel, dass diesen die historisch letzte Chance bewusst war, einen im Volk vollkommen diskreditierten Sozialismus einzig durch glaubwürdige und grundlegende Reformen zu rehabilitieren.
Schulze Wessel weitet den verengten Blick auf die Ereignisse im Frühjahr und Sommer 1968, indem er auf Vorgänge hinter den Kulissen verweist. Bereits in den frühen 1960er Jahren reifte bei realistischen Kräften innerhalb der KPČ die Gewissheit heran, dass nachhaltige Änderungen der realsozialistischen Praxis unausweichlich waren. Schulze Wessel führt unter anderem die Arbeiten der Forschungsgruppe um Radovan Richta an, die sich unter dem Schirm der Akademie der Wissenschaften an der konkreten Ausarbeitung einer realpolitischen Alternative moderner Industriegesellschaften widmeten.
Zdeněk Mlynář, der in Moskau studiert hatte und damals mit Michail Gorbatschow befreundet war, suchte im Auftrag des Instituts für Staat und Recht als Leiter einer interdisziplinären Reformkommission nach Möglichkeiten, strukturell angelegte diktatorische Machtmechanismen im real existierenden Sozialismus durch eine ausgearbeitete „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ abzulösen. Zugleich formulierte der Wirtschaftswissenschaftler Ota Šik mit seinen Mitarbeitern differenziert ausgearbeitete Konzeptionen einer grundlegenden Wirtschaftsreform. Die ökonomische Krise im Land, gekennzeichnet durch eine immer ineffizientere und verkrustete Planwirtschaft, sollte von einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ abgelöst werden.
Die Aufhebung der Zensur im Frühjahr 1968 hatte eine zunehmende Dynamisierung des Reformprozesses in Gang gebracht. Die Reformer gerieten zeitweise unter doppelten Druck. Während die Erwartungshaltungen im Land zusehends stiegen, sahen sich Dubček und seine Mannschaft seitens der verbündeten sozialistischen Bruderstaaten unter Vorsitz von Leonid Breschnew immer unverhohlenerer Drohungen ausgesetzt. Bereits Ende März 1968 war es auf dem „Dresdner Tribunal“ zu einem ersten unangenehmen Höhepunkt gekommen.
Unter Vorspiegelung eines Treffens zu wirtschaftlichen Fragen war dieser Termin zu einem Verhör geraten. Besonders die Vertreter der DDR und Polens, Walter Ulbricht und Władysław Gomułka, überraschten durch ihren vehementen Auftritt gegen die ihrer Meinung nach zu beobachtende „Konterrevolution“ in der ČSSR. Dieses Schema – Vorwürfe und scharfe Kritik auf der einen Seite und Beschwichtigungen Dubčeks mit dem Versprechen, nicht vom Weg des Sozialismus abzuweichen auf der anderen Seite – wiederholte sich und kulminierte schließlich im militärischen Einmarsch in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968.
Die Warschauer-Pakt-Staaten überfielen die souveräne ČSSR mit einer halben Million Soldaten und rund 6.300 Panzer. Über hundert tschechoslowakische Staatsbürger hatten in diesen Tagen ihr Leben verloren, mehr als 500 waren zum Teil schwer verletzt worden.
Dem renommierten Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel ist es gelungen, eine dichte Dokumentation spannend zu präsentieren. Der Weg zum „Prager Frühling“, die politischen Konflikte im Vorfeld, während und nach der Intervention, sowie eine abschließende historische Wertung sind übersichtlich dargestellt. „Der Prager Frühling“ von Martin Schulze Wessel kann als künftiges Standardwerk zur Thematik betrachtet werden. Es löst die 1995 von Jan Pauer vorgelegte Untersuchung „Prag 1968“ nicht ab, sondern stellt bezüglich der eingenommenen Forschungsperspektive eine wertvolle komplementäre Ergänzung dar.
Inzwischen ist das Werk auch als Taschenbuch erhältlich.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ