Hinter der Isar der Osten
Der Verein „Ahoj Nachbarn“ bringt seit zehn Jahren osteuropäische Kultur nach Bayern
26. 8. 2015 - Text: PZ
Wo beginnt eigentlich Osteuropa? Jenseits der Grenzen zu Polen und Tschechien? Ein paar hundert Kilometer weiter in ehemaligen Sowjetrepubliken wie der Ukraine? Oder schon in Passau, wie ein vom Kulturverein „Ahoj Nachbarn“ befragter Biergartenbesucher in München meint? Die Mitglieder von „Ahoj Nachbarn“ kommen aus Ost- und Mitteleuropa, derzeit vor allem aus Polen, Deutschland und der Slowakei. Gegründet wurde der Verein im Jahr 2005 von der tschechischen Studentin Olga Chládková. Sie wollte in Deutschland das Bewusstsein dafür wecken, was östlich der Landesgrenzen passiert – zum Beispiel im polnischen oder tschechischen Film.
Das größte Projekt der Organisation ist das jährlich im November stattfindende Festival „Cinepol“, das unter dem Motto „jung und rebellisch“ vor allem Erstlingswerke polnischer Regisseure zeigt. Viele von ihnen stellen ihre Filme persönlich vor. Es geht um Liebe, Familie, Rebellion gegen Konventionen: universelle Motive, die auch beim Münchner Publikum ankommen. Vom 23. bis 27. September dieses Jahres lädt „Ahoj Nachbarn“ zudem bereits zum vierten Mal als Mitveranstalter zur „Tschechischen Filmwoche“ ein. Der rote Faden in diesem Jahr ist die gesellschaftliche Ausgrenzung Schwacher und Andersdenkender.
Auch abseits der Leinwand will der Verein Lust darauf machen, den Osten zu entdecken, der in Deutschland noch oft mit Ideen „von schlechten Straßen, alten Frauen mit Kopftüchern, Wodka und korrupten Politikern“ verbunden sei, wie der Verein auf der Internetseite des Stadtführers „Ahoj Minga“ schreibt. Mit dem 100-seitigen Band, der im vergangenen Jahr erschien, wollen die Mitglieder mit Vorurteilen aufräumen und zeigen, dass osteuropäische Kultur längst auch ein Teil Münchens ist.
Die folgenden Texte sind dem Stadtführer „Ahoj Minga“ entnommen, der insgesamt 64 Orte in München vorstellt. Bestellt werden kann er unter www.ahoj-minga.de. Auf Anfrage sind auch Stadtführungen mit den Vereinsmitgliedern möglich.
Ost-West-Friedenskirche
Im Olympiapark findet sich ein Märchen in Miniatur: Die Ost-West-Friedenskirche liegt in einem verwunschen wirkenden Garten, in dem alles ein bisschen kleiner, ein bisschen schiefer, ein bisschen friedlicher ist als in der Welt da draußen. Timofei Wassiljewitsch Prochorow, besser bekannt als Väterchen Timofei, hat das universell christliche Gotteshaus zusammen mit seiner Begleiterin und späteren Ehefrau Natascha Anfang der 1950er Jahre mit eigenen Händen erbaut. Diese Ruheoase überlebte selbst den Bauwahn der Olympischen Sommerspiele 1972. Seit seinem Tod 2004 im sagenhaften Alter von 110 Jahren, kümmern sich sein enger Freund Sergej und dessen Frau Natascha um Timofeis Erbe, das neben der eigentlichen Kirche auch ein Museum umfasst. Bei ihnen können Führungen gegen eine kleine Spende gebucht werden.
Spiridon-Louis-Ring 100, München (Milbertshofen-Am Hart), geöffnet täglich, meist 11 bis 17 Uhr
Galerie Kalt
Die Inhaberin der gleichnamigen Galerie, Nina Kalt, ist in der Bauhaus-Stadt Zlín in Tschechien geboren. Da ihre Eltern keine Mitglieder der Kommunistischen Partei waren, wurde ihr ein künstlerisches Studium verwehrt. Die Wahl fiel notgedrungen auf die Fächer Chemie und Mathematik. Auf der Karriereleiter brachte sie das weit nach oben – bei Siemens fungierte sie als höchste weibliche Managerin weltweit. 2007 erfüllte sie sich ihren Traum: In einem ehemaligen Waschmaschinenladen richtete sie sich etwas ein, das zuerst Atelier sein sollte, heute Galerie ist. Neben einigen südkoreanischen Künstlern arbeitet Nina Kalt vor allem mit dem Künstler Patrik Hábl zusammen, der ebenfalls aus Zlín stammt.
Guldeinstraße 40a, München (Westend), geöffnet Donnerstag bis Samstag 18 bis 20 Uhr und nach Vereinbarung. Derzeit zeigt die Galerie die dritte Phase des Langzeitprojekts „Holešovice – Westend – Kwachon“ , das sich künstlerisch mit den jeweiligen Stadtteilen in Prag, München und Seoul auseinandersetzt.
Tolstoi-Bibliothek
So muss es vor einem halben Jahrhundert auch schon ausgesehen haben. Vielleicht waren die Bücherregale noch nicht so voll, stand der Flügel noch nicht am Fenster. Aber die vielen Sessel, Stehlampen, der schmale Gang mit den Regalen rechts und links – die Tolstoi-Bibliothek versprüht noch immer den Charme längst vergangener Zeiten und ist doch bedeutend für die Gegenwart. 1949 von russischen Flüchtlingen gegründet, besitzt sie heute über 40.000 Bücher in russischer Sprache –vor allem Belletristik – und ist damit die wichtigste Sammlung russischer Emigrationsliteratur weltweit. Die Mitarbeiter des Vereins „Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk“ betreuen nicht nur die Präsenz- und Leihbibliothek, sondern geben vor allem seit den neunziger Jahren jährlich rund 1.600 aus den ehemaligen GUS-Ländern Eingewanderten in der „Sozialberatung“ praktische Lebenshilfe. Zweimal pro Monat bietet der Verein meist kostenlose Kulturveranstaltungen.
Thierschstraße 11, München (Lehel), geöffnet Dienstag und Donnerstag 13 bis 19 Uhr, Freitag 13 bis 18.30 Uhr
Ukrainische griechisch-katholische Pfarrei
Wladimir Wiitovitch kennt die Zahl seiner Schäfchen genau. Von 5.649 in München gemeldeten Ukrainern (wir haben das nachgeprüft, laut offizieller Statistik waren es 2012 5.751), kämen rund die Hälfte zu seinen Gottesdiensten. Wladimir Wiitovitch ist Pfarrer der größten ukrainischen griechisch-katholischen (oder einfacher: unierten) Kirchengemeinde in München. Neben einem beeindruckenden Altarraum erwarten Besucher hier viele Hinweise auf das religiöse Leben der westukrainischen Diaspora. Die Gemeinde hat einen Saal für Veranstaltungen, in dem sich unter anderem der Bund Ukrainischer Studenten trifft. Außerdem hat hier der ukrainische Pfadfinderbund „Plast“ seinen Sitz, der seit nunmehr 100 Jahren für eine patriotische Erziehung ukrainischer Jugendlicher steht.
Schönstraße 55, München (Giesing)
Interessierte können sich beim monatlichen Stammtisch über geplante Aktivitäten und Möglichkeiten des Engagements im Verein informieren. www.ahojnachbarn.eu
Sommerfrische in der Steiermark
Mediale Grenzgänger