Hinterm Horizont immer weiter

Hinterm Horizont immer weiter

Eine Reise durch die Kreise – Teil 3: Folklore und Fahrtwind im Plzeňský kraj

23. 8. 2016 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Fotos: Ladislav Renner/Czech Tourism und C. Anton

In Přeštice sieht es aus, als wäre die Welt noch in Ordnung. Die Drogerie am Marktplatz heißt „Laguna“, die Apotheke um die Ecke „Magnolie“ und Kleidung kauft man hier offenbar im „Obchod pro celou rodinu“ – im „Geschäft für die ganze Familie“. Der Blick auf die barocke Mariä-Himmelfahrt-Kirche ist so gewaltig, dass ein älterer Herr an der Bushaltestelle kurz die Kamera aus der Tür hält und abdrückt. Erbaut in den Jahren 1750 bis 1775 von Kilian Ignaz Dientzenhofer, gilt die Kirche seit 2008 als nationales Kulturdenkmal.

Dann fährt der Bus auch schon weiter und der Herr mit den grauen Haaren würde seinen Fotoapparat gewiss noch einmal zücken, wenn die Scheibe nicht so schmutzig wäre. „Hand­gepäck sichern“, warnt ein Schild auf Deutsch – der Linienbus war wohl schon eine Weile jenseits der Grenze im Einsatz, bevor er in den Dienst des Kreises Pilsen wechselte. Von der Kreishauptstadt schaukelt er die Passagiere nun in Richtung Švihov. Draußen werden aus Wäldern langsam Maisfelder, die irgendwann plötzlich den Blick freigeben auf die Hügelketten am Horizont. Es ist ein wenig diesig, aber man ahnt: Das muss er sein, der Böhmerwald, der den Süden des Kreises um den Grenzort Železná Ruda zu einem der schönsten Flecken des Landes macht.

Zur Arbeit nach Bayern
Die Reise endet allerdings zunächst in Klatovy – immerhin das „Tor zum Böhmerwald“, wie die 23.000-Einwohner-Stadt sich selbst bezeichnet. In der Bäckerei auf dem Weg ins Zentrum gibt es mit Mohn gefüllte Buchteln für acht Kronen und dazu kostenlos die neuesten Geschichten von den Katzenbabys einer Stammkundin. Im Rathaus werden Führungen auf Deutsch angeboten, „30 bis 40 Kilometer von der Bundesgrenze entfernt“, steht auf den Handzetteln, die dafür werben. Etwa 40.000 Touristen besuchten Klatovy pro Jahr, sagt eine Mitarbeiterin im Infozentrum. Besonders die Katakomben und die barocke Apotheke seien beliebt.

Am „Platz des Friedens“ in Klatovy

Ebenfalls am zentralen „Platz des Friedens“ stehen der 81 Meter hohe Schwarze Turm, auf den mehr als 200 Stufen hinaufführen, und die Jesuitenkirche der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria und des Heiligen Ignatius – auch hier hat Kilian Ignatz Dientzenhofer seine Spuren hinterlassen. Nur wenige Minuten Fußweg entfernt befinden sich die Kirche des Heiligen Laurentius, der Weiße Turm und die gotische Kirche Mariä Geburt. Kein Wunder, dass Besucher verwirrt sind. „Wenn wenigstens irgendjemand hier ein bisschen Deutsch sprechen würde“, seufzt eine Frau mit weißen Haaren. Ihr Mann folgt ihr, beide gehen mit Krücken und lassen sich dankbar den Weg zum Schwarzen Turm erklären.

Es muss gerade ein ganzer Reisebus aus dem Nachbarland angekommen sein, denn überall in den Straßen hört man nun Touristen auf Deutsch über die Sehenswürdigkeiten der Stadt und Preise in den Geschäften diskutieren. Auch die Menschen aus Klatovy fahren gelegentlich über die Grenze – zum Wandern im Bayerischen Wald oder zum Einkaufen, zum Baden und manche auch zum Arbeiten. Denn der Kreis Pilsen steht zwar im nationalen Vergleich gut da; die Arbeitslosigkeit ist gering, der Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt relativ hoch, doch er wird vor allem in der Kreisstadt erwirtschaftet. Und für viele gibt es in Bayern noch lukrativere Jobs als in Böhmen.

Gern hätte man sich am Marktplatz noch mit Einheimischen über das Leben hier unterhalten. Aber die Leute, die dort in der Sonne sitzen, sind entweder nicht aus der Gegend oder haben keine Lust, mit Journalisten zu reden. „Sie sind nicht einmal von hier? Wie wollen Sie dann etwas über die Stadt schreiben?“

Dann eben nicht, Klatovy. Aber auf dem Weg zum Bahnhof erbarmt sich doch noch eine ältere Dame. „Suchen Sie etwas?“ Spontan kommt sie mit zum Bahnhof, sie müsse sowieso in die Richtung, sagt sie. „Ach, nach Domažlice fahren Sie. Schade, dann haben Sie gerade das Folklore­festival am Wochenende verpasst.“ Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn seien dafür sogar extra aus Prag angereist.

Schloss und Burg machen Horšovský Týn sehenswert.

Dass Tanz und Tradition eine wichtige Rolle spielen, bestätigt die Sitznachbarin auf der Fahrt nach Domažlice, das Zentrum des Chodenlandes. Die Bahn bummelt an Kirch­türmen, Strohballen, Kühen und Schafen vorbei und hält an den Bahn­höfen nur „na znamení“, das heißt: wenn man rechtzeitig einen Knopf gedrückt hat. Ab­lenkung von der Heidi-Landschaft draußen (nur die schneebedeckten Gipfel im Hintergrund fehlen) bietet das kostenlose regionale Wochenblatt „5plus2“, das schon auf der Fahrt nach Klatovy auf dem Sitz lag. „Die Stiftung Agrofert hilft Folk­loregruppen, Volksmusikern und Gesangsvereinen“, steht in einem Artikel geschrieben. Sie wolle Organisationen unterstützen, die „böhmische, mährische und slowakische Traditionen auf dem Gebiet der Tschechischen Republik bewahren“. Keine schlechte Sache – und die Musiker wird es vermutlich nicht stören, dass „5plus2“ selbst zum Konzern Agrofert gehört, dessen Besitzer Finanzminister und Vizepremier Andrej Babiš ist. Aber  man ist schließlich nicht in diese schöne Landschaft gefahren, um sich über politische Verstrickungen zu ärgern.

Also Domažlice mit Marienkirche, Stadtbrunnen und Chodenburg. In Erinnerung wird später eine Großmutter bleiben, die sich im Blumenladen nach einem Army Shop erkundigte. Im Schlepptau die Enkel, etwa neun und zwölf, und ein kleinkindgroßes Stoffkrokodil. Nein, hier gebe es keinen Armeeladen, sagte die Verkäuferin entschuldigend, empfahl aber einen Fischerei- und Jägerbedarf. Weniger bleibenden Eindruck hat das Jindřich-Jindřich-Museum hinterlassen. Ein vielseitig begabtes Talent aus der Gegend, schwärmte die junge Frau an der Kasse. Eine Art Jára Cimrman des Chodenlands, könnte man vermuten. Aber den Komponisten, Ethnographen, Pianisten und Sammler Jindřich Jindřich gab es wirklich, 1967 starb er in Domažlice.

„Es gibt hier genug Kneipen“
Von dort könnte man nun in alle möglichen Richtungen aufbrechen: Nach Železná Ruda zum Beispiel, um die Grenze nach Bayerisch Eisenstein zu überqueren, oder mit Fahrrad und Wanderschuhen nach Hartmanice und Kašperské Hory. Nah sind auch Furth im Wald und Schönsee, der Oberpfälzer Wald, der auf der tschechischen Seite Český les heißt, oder Eslarn und Běla nad Radbuzou, die der Europaradweg von Paris nach Prag miteinander verbindet. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass es eine ganz schöne Plage sein kann, von der einen Stadt in die andere zu radeln – bergauf, bergab auf unebenen Wegen. Wer Steigungen nicht scheut, kann in der Region auf jeden Fall glücklich werden. Aus dem Eisernen Vorhang ist längst ein grüner geworden, der durch­zogen ist von grenzüberschreitenden Pfaden.

Die Mariä-Himmelfahrt-Kirche dominiert das Ortsbild von Přeštice.

Diese betreten auch Lukáš, Adéla und Jonáš ab und zu, um einzukaufen oder einen Ausflug in die bayerischen Berge zu machen. Jetzt sitzen die 20- und 21-Jährigen am Ufer der Radbuza in Horšovský Týn, etwa 20 Busminuten nördlich von Domažlice. Hier sind sie aufgewachsen und haben ihre Freunde und Familien. Mittlerweile kommen sie aber nur noch zum Wäschewaschen am Wochenende und in den Ferien. Adéla studiert an der Philosophischen Fakultät in Pilsen, die beiden jungen Männer sind angehende Informatiker. In Pilsen haben sie die Klubs für junge Leute gefunden, die ihnen hier fehlten, sagen sie. Ansonsten gefällt es ihnen auch in ihrer Heimatstadt ganz gut. „Es gibt ein Schloss, genug Kneipen und einen schönen Park. Wir haben auch ein paar Fabriken; wenn man nicht anspruchsvoll ist, kann man dort Arbeit finden“, sagt Lukáš.

Die drei wissen noch nicht genau, was sie nach dem Studium machen wollen. „Am besten ein bisschen reisen, aber dann hier eine Familie haben“, meint Adéla. Etwa die Hälfte der Absolventen ziehe wegen der Arbeit weg, so Lukáš, nach Pilsen, Deutschland oder Prag. Von den Politikern in der Hauptstadt hält Lukáš übrigens nicht viel. „Es passt mir nicht, wie die Regierung sich verhält, ihnen geht es doch nur ums Geld und manche Gesetze sind völlig sinnlos.“ Konkreter werden will er aber nicht, sonst müsse er sich nur furchtbar aufregen. Adéla ergänzt noch: „Was in der Welt passiert, ist nicht angenehm, deswegen verfolge ich das lieber gar nicht.“

Immerhin, von den Schön­heiten ihrer Stadt haben die drei nicht zu viel versprochen. Die Burg- und Schlossanlage kann mit den bekanntesten des Landes durchaus mithalten; wenn sich Horšovský Týn als „Krumau des Westens“ bezeichnet, muss man ihr sogar noch zugute halten, dass sich hier im Gegensatz zu Český Krumlov nicht so viele Besucher tummeln und die Res­taurants und Geschäfte nicht vornehmlich auf Touristen ausgerichtet sind.

Auch im Schlosspark wird man nicht gestört, wenn man sich auf die Wiese setzt und den Enten und Schwänen beim Schwimmen zuschaut. Ab und zu spaziert eine Familie mit Kinder­wagen vorbei, ein Radfahrer führt seinen schwarzen Labrador aus und von einem Garten in der Nähe kommt Musik herüber. „Smoke on the Water“ von Deep Purple. Aber der einzige Rauch, der in Horšovský Týn aufsteigt, zieht weiter hinten im Park in den hellblauen Himmel. Dort sitzen ein paar Jugendliche mit Zigaretten und Bier.


Plzeňský kraj

Fläche: 7.649 Quadratkilometer (Rang 3 von 14 Kreisen)
Einwohner: 576.616 (31.12.2015, Rang 9 von 14 Kreisen)
Kreisstadt: Pilsen (etwa 170.000 Einwohner)
Arbeitslosigkeit: 3,8 Prozent (31.07.2016, niedrigste Quote aller Kreise)