Historische Schnitzeljagd
Über den ungeklärten Selbstmord des Offiziers Alfred Redl wird bis heute spekuliert. Eine neue Publikation stellt bisherige Lesarten infrage
7. 8. 2013 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: gaiff.am
Vor 100 Jahren erschütterte ein spektakulärer Spionagefall die Weltöffentlichkeit: In den Morgenstunden des 25. Mai 1913 erschoss sich der österreichische Nachrichtenoffizier Alfred Redl im Wiener Hotel „Klomser“. Der zweithöchste Mann des österreich-ungarischen Militärgeheimdienstes und Generalstabschef in Prag hatte jahrelang strategische Geheimnisse an Russland, Italien und Frankreich verraten. Seine Enttarnung führte zu einem der größten Skandale der österreichischen Geschichte. Und zur Legendenbildung.
Der angeblich homosexuelle Staatsbedienstete habe brisante Informationen an feindliche Geheimdienste verkauft, um damit sein kostspieliges Liebesleben zu finanzieren. Redl wurde zum „Jahrhundertspion“ und „Totengräber“ der bereits zerbröckelnden k.u.k. Monarchie erklärt. Für die verheerenden Verluste des Habsburgerreiches im Ersten Weltkrieg und schließlich dessen Untergang war ein Sündenbock gefunden. Das Ende der Donaumonarchie hätte Redl herbeigeführt, indem er die Kriegspläne an Russland preisgab.
Die Sicherheitsbehörden der k.u.k. Monarchie versuchten angeblich alles in ihrer Macht Stehende, um die Affäre, die ein schlechtes Licht auf die Habsburger Gesellschaft warf, zu vertuschen. Immerhin wurde Homosexualität damals sogar mit Haftstrafe belegt. Allein durch die Recherchen eines aufstrebenden Journalisten der Prager Zeitung „Bohemia“ gelangte der Fall an die Öffentlichkeit: Egon Erwin Kisch, der später als „rasender Reporter“ weltweit bekannt werden sollte, wurde durch einen Hinweis auf den Fall aufmerksam und stellte eigene Ermittlungen an. Um seinen Artikel an der Zensur vorbeizuschleusen, veröffentlichte er ihn in Form eines Dementis vorgeblich falscher Fakten. Die Titelgeschichte der Montagsausgabe der Zeitung erregte großes Aufsehen; auch Kaiser und Thronfolger haben angeblich erst auf diesem Weg von dem Spionagefall erfahren.
Kisch deckt auf
Bis heute sind die Umstände im Fall Redl nicht geklärt – umso attraktiver wurde das Thema für Film und Literatur. Mehrere Spielfilme, Romane und Monografien setzen sich damit auseinander. Erst jüngst erschien ein weiteres Buch. In „Doppelagent auf höchsten Befehl? Egon Erwin Kisch und der Spionage-Fall um Oberst Alfred Redl“ behandelt der Historiker und Journalist Manfred-Guido Schmitz die Geschehnisse aus einer anderen Perspektive.
Wurde Redl vorwiegend als homosexueller Offizier dargestellt, der aus Geld- und Ruhmsucht Hochverrat beging oder aber vom russischen Geheimdienst ob seines Wissens um dessen Homosexualität zur Spionage gezwungen wurde, stellt Schmitz die gesamte Causa als höchst unglaubwürdig infrage. Laut Schmitz ist es durchaus denkbar, dass Redl nicht in russischem Auftrag spionierte, sondern auf Geheiß der k.u.k. Monarchie den Russen gezielt Fehlinformationen zuspielen sollte.
Im Gegenzug hätte Redl gegnerische Geheimdienste ausspähen können. Als Redl jedoch zufällig an streng geheime militärische Dokumente geriet und zur potentiellen Gefahr für hochrangige Vertreter des Militärs wurde, habe man ihn aus dem Weg schaffen wollen. Nichts schien da einfacher, als ihm eine homosexuelle Neigung anzudichten: Den Selbstmord hätte Redl dann aus Scham begangen; vertuschen wollte man den Fall nur vorgeblich – wegen des gebrochenen Tabus, das die Ehrwürdigkeit des Generalstabs besudelte. Doch tatsächlich, so eine weitere These Schmitz’, habe man den Fall nur scheinbar verheimlichen wollen, um ihn so einerseits glaubwürdiger zu machen und andererseits die Machenschaften hoher Militärs zu verbergen.
Zu dieser Deutung gelangte Schmitz, nachdem er den Dokumentarfilm „Leidenschaft und Verrat“ anlässlich des 100. Todestages von Redl im deutschen Fernsehen sah. Diese beruft sich eigenen Angaben zufolge hauptsächlich auf Kischs Publikation von 1924. Elf Jahre, nachdem der Journalist den Fall publik machte, rollte er die Geschichte in seinem Buch „Der Fall des Generalstabschefs Redl“ erneut auf. Da die Akten des Militärgeheimdienstes gegen Kriegsende vernichtet wurden, stellt Kischs Buch eine wesentliche Quelle für die ungeklärten Vorkommnisse von 1913 dar und prägt die historische Betrachtung der Affäre bis heute.
Umso stutziger wurde Schmitz, da die Dokumentation Kisch in einer für den Historiker unglaubwürdigen Weise interpretierte. Mehrere Ungereimtheiten fielen ihm dabei auf: Redl wäre in Wien beim Abholen eines Geldbriefes als russischer Agent entlarvt worden und hätte Kontakt mit dem obersten Kläger in Wien aufgenommen; laut Kisch aber hatte Redl bereits von Prag aus ein Treffen mit demselben vorbereitet. Warum erschoss sich Redl in einem belebten Hotel, wenn er eine Wohnung in Wien unterhielt? Hätte er sich tatsächlich aus Scham ob seiner Homosexualität umgebracht, dann doch eher zuhause. Die Pistole, mit der sich Redl erschoss, landete nicht in einer Asservatenkammer, sondern bei einer Versteigerung. Weshalb hätte ein ranghoher Offizier wie Redl über die Summen, die er sich seine homosexuelle Neigung hatte kosten lassen, Buch führen sollen?
Krimi mit Tempo
Es ließen sich weitere Ungereimtheiten anführen; die einzelnen Argumente gegen herkömmliche Deutungen führt Schmitz in seinem Buch an. In einem fiktiven Gespräch zwischen Vater und Sohn rollt Schmitz den Fall neu auf. Dabei nimmt er Kischs Buch nicht aus dem Blickwinkel eines Historikers, sondern aus der Sicht eines Journalisten unter die Lupe. Als „Berufskollege“ untersucht er die Aussagen Kischs auf Plausibilität und vergleicht sie mit bisherigen Lesarten der Causa Redl. Sein Sohn Jens kommentiert die Gedanken, wirft Fragen auf und zieht neue Schlüsse. Das Ganze erinnert ein wenig an die Sokratische Methode: Durch Frage und Antwort werden die Ereignisse von 1914 rekonstruiert, der Leser wird auf Unklarheiten und Widersprüche aufmerksam gemacht und schließlich zu neuen Schlussfolgerungen geführt.
Die historische Schnitzeljagd zieht den Leser mit ihrem unglaublichen Tempo schnell in den Bann. Dennoch sollte man das Buch nicht nebenbei verschlingen. Man muss schon aufmerksam bleiben, um mit der Geschwindigkeit, in der sich die Gedanken entspinnen, Schritt halten zu können. Die erzählerische Bescheidenheit macht Schmitz’ Ausführungen sympathisch. Entgegen anderer Historiker – wie zum Beispiel Verena Moritz und Hannes Leidinger, die in ihrer Publikation von 2012 den Fall als eine Geschichte um „Sex and Crime“ schildern – bleibt Schmitz zurückhaltend. Er verteidigt zwar argumentativ seine Thesen, drängt diese dem Leser jedoch nicht auf. Am Ende ist das Buch genau das, als was es sein Verfasser versteht: „eine Anregung, bei der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den damaligen Vorgängen zahlreiche Hinweise von Kisch nochmals zu hinterfragen; sine ira et studio – soweit dies möglich ist bei einem ,Kriminalfall, der zum Mythos geworden ist’“.
Manfred-Guido Schmitz: Doppelagent auf höchsten Befehl? Egon Erwin Kisch und der Spionage-Fall um Oberst Alfred Redl. Eigenverlag, Nordstrand/Nordsee 2013, 248 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-938098-98-1
„Markus von Liberec“
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