Ich bin ich und basta
Der Sammelband „Ich träume von Prag“ vereint Schriftsteller zwischen zwei Sprachen
19. 12. 2012 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: Karl Stutz Verlag
Der Untertitel der vorliegenden Anthologie ist treffend gewählt: „Deutsch-tschechische Grenzgänge“! Es werden 19 Autoren präsentiert, deren unterschiedlichste Lebensläufe sich in einem Punkt überschneiden: Alle sind sie in der Tschechoslowakei geboren und alle hat es irgendwann in deutschsprachige Länder, in die Bundesrepublik Deutschland, nach Österreich oder in die Schweiz verschlagen.
Die Spanne der Geburtsjahre liegt zwischen 1930 bei Ota Filip bis 1975 bei Milena Oda. Für alle Biografien gilt jedoch, dass die welthistorische Phase des Kalten Krieges in irgendeiner Weise auf die schöpferische Entwicklung eingewirkt hat. Die Älteren der versammelten Autoren hatten noch die Hintergründe dieser Entwicklung miterlebt, als die Welt und vor allem Europa, getrennt durch den sogenannten Eisernen Vorhang, in zwei politisch-ideologische Machtbereiche geteilt wurde. Bei der „mittleren Generation“ standen Kindheit oder, wie etwa bei Jiří Gruša ,die Jugendzeit ganz im Schatten des „real existierenden Sozialismus“. Andere gesellschaftliche Formationen kannten sie nur vom Hörensagen oder aus dem Fernsehen. Als Gruša Mitte der 1960er Jahre erstmals für einen Tag nach West-Berlin ausreisen durfte, staunte er darüber, dass ihm Liberalität in der vorherrschenden Diskussionskultur als Vorwurf begegnete. Ihn irritierte die satte Selbstverständlichkeit der Westler, in welcher „die Armut der Welt üppiger beklagt werden konnte“. Die Biografien der Jüngeren und Jüngsten dieser Sammlung waren dann allerdings bereits im Westen geprägt worden, wohin sie im Laufe der 1960er, 70er oder 80er Jahre zumeist als Kinder mit ihren Eltern emigriert waren.
Dreh- und Angelpunkt Prag
Konkrete Orte wie Prag, aber auch widersprüchliche Gefühle im Nachdenken darüber bilden, wie bereits der Titel dieser Sammlung andeutet, eine Klammer, einen Orientierungsrahmen. Versteckt hinter allen Varianten von Texten, Bildern und Berichten, Erinnerungen und Erzählungen ist immer wieder die Vergewisserung über das eigene Ich. Es ist somit ein zeitloses Nachdenken entstanden, das den Leser bei der Hand nimmt.
Ein ausführliches Vorwort der Herausgeber, die auch sämtliche Autoren ganzseitig vorstellen, beschreibt in einem kundigen soziokulturellen Aufriss den spezifischen mitteleuropäischen Hintergrund. Bis auf einen Beitrag handelt es sich im vorliegenden Buch um Originalbeiträge, die, abgesehen von Tomáš Kafkas kurzem Text, auch in deutscher Sprache verfasst wurden. Sein Text trägt, wie sollte es anders sein, den Titel „Die Verwandlung“ und endet damit, dass ihn die Franz-Kafka-Gesellschaft antelefoniert: „Es gäbe einige Kleinigkeiten zu klären, hinsichtlich des Urheberrechts“.
Es ist, bei aller Überschneidung dieser biografischen Lebensläufe, faszinierend zu lesen, in welch unterschiedlichen Richtungen hin sich die einzelnen Wahrnehmungen entfaltet haben. Der Dreh- und Angelpunkt Prag spielt selbstverständlich in fast allen Texten eine Rolle, in anderen Erzählungen wird er durch böhmische oder mährische Akzente ersetzt. Jedoch auch die Prager Blicke fallen recht verschieden aus. Da schaudert es Helena Reich vor dem modernen Prag mit Massen von „Touristen in kurzen Hosen und klobigen Schuhen“, während Milena Oda mit klugen Karikaturen zu unerwarteten Kafka-Travestien aufwartet: „Ein für alle Mal höre ich auf, danach zu fragen, was ich alles hätte sein können. Was ist, das ist“. Tereza Vanek erweckt in ihrem Historienschauspiel böhmische Legenden zu neuem Leben und Peter Ambros weist, um topographischen Missverständnissen vorzubeugen, darauf hin, dass Prag bei Wien liegt. Aber bei Peter Ambros sind derlei Scherze auch auf seinen ironischen Schreibstil zurückzuführen. In seiner traumatischen Kriminalgeschichte stößt er während seiner Recherchen unter anderem auf einen Arzt, einen „weiß gekleideten rothaarigen Riesen mit einer Tonsur so breit, dass das Rot seiner Haare am deutlichsten durch die Augenbrauen identifizierbar war“.
Der graue Emigrantenalltag mit seinen alltäglichen Sorgen nimmt naturgemäß eine große Rolle ein. Wie kommt man an, in der neuen Welt und in welcher Weise haftet die Vergangenheit an einem. Bilder der Kindheit bleiben für ein Leben bestimmend, auch wenn sich die Umgebung längst geändert hat. Psychologisch fein beobachtet berichtet Eva Profousová wie aus erster Hand von einem weiblichen Emigrantenschicksal, das von fremder Liebe letztlich verschluckt wurde. „Seine Liebe nahm ihr die Luft zum Atmen, machte sie zu einem Schatten ihrer selbst“. Und so verlor sich ihre Spur, nebelhaft und nahezu unmerklich und nur noch eine einsame Haarklammer war übriggeblieben. Aber auch ein ganz spezielles Emigrantenproblem wird nicht ausgeblendet, wenn Milan Rácek von Erlebnissen mit deutschen und österreichischen Freunden in einem Prager Bierlokal berichtet: die ernüchternde Enttäuschung bei der Rückkehr in die alte Heimat – über die alte Heimat.
Andrea Fischerová/Marek Nekula (Hrsg.): „Ich träume von Prag“. Verlag Karl Stutz, Passau 2012, 388 Seiten, 23,80 Euro, ISBN 978-3-88849-068-2
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?