„Ich erwarte eine grundlegende Reform“
Gespräch mit dem Theologen und Juristen Martin Kocanda über tschechische Gefängnisse und Rechtsprechung
6. 3. 2013 - Interview: Klaus Hanisch
Martin Kocanda (39) war einer der ersten Gefängniskaplane in Tschechien. Er ist Theologe, Jurist und Sonderpädagoge und amtiert seit kurzem als Generalsekretär der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB). Davor arbeitete Kocanda 15 Jahre lang im Gefängniswesen, zuletzt als stellvertretender Direktor der gesamtstaatlichen Gefängnisverwaltung. Im Gespräch mit Klaus Hanisch analysiert der Experte die akuten Probleme in tschechischen Haftanstalten.
Noch immer wird in Tschechien über die Amnestie für Strafgefangene durch Präsident Václav Klaus diskutiert. War diese Entscheidung, durch die mehr als 6.000 Inhaftierte freikamen, im Nachhinein richtig?
Kocanda: Diese Amnestie hat zwei Seiten. Ich stimme mit dem Präsidenten überein, dass man die Situation in den restlos überfüllten tschechischen Gefängnissen verbessern muss. Dort gibt es derzeit mehr als 23.000 Strafgefangene, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl mehr als dreimal so viele wie in westeuropäischen Ländern. Zudem sind die Gefängnisse bestenfalls für 20.000 Personen konzipiert. Und es ging ja um Verurteilungen von meist nur bis zu zwei Jahren Haft.
Doch viele Bürger beklagen, dass damit nicht Kleinganoven freigesetzt, sondern gleichsam die Skandale der Republik amnestiert wurden.
Kocanda: Das ist die zweite Seite, und damit habe auch ich Probleme. Klar ist, dass Untersuchungen von Kriminalfällen in Tschechien zu lange dauern. Aber es ist keine Lösung, diese Prozesse mit einer Amnestie einfach zu beenden. Besser wäre es, man fände endlich Instrumente, um die Dauer des Verfahrens zu verkürzen. Zumal es nun auch keine Klarheit darüber gibt, ob diese Verdächtigen wirklich schuldig sind oder nicht.
Ehemalige Häftlinge geben an, dass manche Zellengenossen bald wieder in die Gefängnisse zurückkehren werden. Sind Sie auch so pessimistisch?
Kocanda: Ich bin sicher, dass nicht alle Häftlinge für ihre gesamte Strafdauer im Gefängnis hätten bleiben müssen. Für einige war das eine Warnung. Sie haben nun eine zweite Chance verdient. Und wenn nur einer diese Chance nutzt, hat es sich gelohnt. Aber auch ich bin sicher, dass viele zurückkommen werden. Einfach schon aus dem Grund, weil unter ihnen etliche Wiederholungstäter sind. Oft professionelle Diebe, die schon immer ihren Lebensunterhalt damit verdient haben und überhaupt nicht wissen, was sie mit ihrer Freiheit anfangen sollen. Gerade für sie wäre es sehr wichtig, Leute zu haben, die ihnen helfen.
Wird diese Amnestie nun Kriminalbeamte, Staatsanwälte oder Richter demotivieren?
Kocanda: Erstere nicht. Sie wissen, dass die von ihnen überführten Täter ihre Strafe bekamen. Das ist sehr wichtig, auch dass sie eine gewisse Zeit im Gefängnis waren. Ich höre im Gespräch mit Kriminologen, dass die Bestrafung an sich für sie viel bedeutender ist als das Strafmaß. Der zweite Teil der Amnestie könnte hingegen tatsächlich Polizisten und Staatsanwälte frustrieren. Speziell solche, die sich über Jahre mit sehr schwierigen Wirtschaftsfällen befasst hatten und plötzlich gestoppt wurden.
Jeder tschechische Strafgefangene hat laut Gesetz ein Recht auf vier Quadratmeter Raum im Gefängnis, in Westeuropa sind es sechs Quadratmeter. Dafür wurde Tschechien schon von der EU gerügt. Was bedeutet das für die praktische Arbeit?
Kocanda: Das ist ein großes Problem. Wenn man als Psychologe oder Psychotherapeut mit den Insassen einzeln oder in therapeutischen Gruppen arbeitet, ziehen sie daraus möglicherweise eine sinnvolle Hilfe. Doch dann kehren sie in Räume zurück, wo sie ohne Privatheit und nicht selten mit bis zu 15 weiteren Gefangenen leben. Und wer hat wohl mehr Einfluss auf sie: der Therapeut in ein oder zwei Stunden oder die anderen Gefangenen am Rest des Tages?
Gibt es deshalb auch mehr Aggressivität unter den Gefangenen?
Kocanda: In deutschen oder niederländischen Gefängnissen haben Insassen normalerweise einen Raum für sich allein oder mit einem anderen zusammen. Damit soll kein Komfort geschaffen werden, vielmehr ist die Resozialisierung unter diesen Bedingungen viel effektiver. Wenn man dagegen 24 Stunden am Tag mit 15 anderen verbringen muss, sind darunter sicher nicht nur Freunde…
Wie könnte man diese Situation lösen?
Kocanda: Die einfachste Lösung ist: weitere Gefängnisse bauen. Aber das ist für mich ein Weg in die Hölle!
Also könnten Bestrafungen wie Hausarrest mehr helfen?
Kocanda: Das ist eine sehr gute Lösung! Doch unsere Richter setzen diese Alternative erst allmählich ein. Sie ist sicher nicht für Gewalttäter geeignet, aber zum Beispiel für Leute, die Eigentumsdelikte begangen haben. Diese Leute können weiter arbeiten, selbst Geld verdienen und werden zudem durch Berater direkt unterstützt. Das ist noch wichtiger als die Bestrafung selbst. Eine andere Möglichkeit ist, gemeinnützige Arbeit als Strafe auszusprechen.
Werden Bürger in Tschechien generell zu schnell zu Gefängnisstrafen verurteilt?
Kocanda: Ja, absolut! In vielen Fällen wäre es nicht nötig, Leute ins Gefängnis zu stecken. Typisch dafür ist, dass man hier ins Gefängnis kommt, wenn man nicht mehr den Unterhalt für seinen geschiedenen Lebenspartner oder die Kinder bezahlen kann. Das ist völlig unlogisch, weil diese Leute im Gefängnis erst recht kein Geld dafür verdienen können. Außerdem ist es für mich nur ein Fall für einen Zivilprozess.
Was erwarten Sie von der Politik, um diese Problematik zu lösen?
Kocanda: Ich erwarte eine grundlegende Reform. Es ist notwendig zu erkennen, dass wir nicht mehr Mörder und Diebe haben als im Rest von Europa! Und wir haben nicht genug Geld, um alle in Gefängnisse zu schicken, was auch ineffektiv wäre. Wir brauchen andere Lösungen, und die können wir größtenteils schon bei unseren Nachbarn finden. Mit Kollegen bereite ich gerade eine Reform der Gefängnisse vor, damit zumindest unsere aktuell vier Typen von Gefängnissen auf zwei reduziert werden. Auch darin ist Tschechien anders als andere Länder: Ein Gericht entscheidet nicht nur über die Strafe, sondern auch darüber, in welcher Art von Gefängnis sie verbüßt werden muss. Doch die kann es überhaupt nicht richtig einschätzen. Deshalb werden Leute, die die gleichen Verbrechen begangen haben, derzeit auch mal in bessere oder schlechtere Gefängnisse eingewiesen.
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten