„Ich würde auf jeden Fall abhauen“

Der Fotograf Stanislav Krupař hat sich mit Flüchtlingen auf den Weg nach Europa gemacht. Die Reise endete jedoch anders als erwartet – in einem ägyptischen Gefängnis

19. 1. 2016 - Text: Jan NechanickýInterview: Jan Nechanický; Foto: Stanislav Krupař (rechts) mit ZEIT-Redakteur Wolfgang Bauer/Stanislav Krupař

 

Warum sind Menschen auf der Flucht? Wer sind die Männer und Frauen, die ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen? Das fragte sich der tschechische Fotograf Stanislav Krupař schon, bevor die Flüchtlinge zum Dauerthema in Europa wurden. Zusammen mit Wolfgang Bauer, Redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, machte sich der heute 43-Jährige im April 2014 auf den Weg nach Ägypten. Von dort begleiteten sie inkognito syrische Flüchtlinge auf ihrer Reise nach Europa. Die Reportage, die daraus entstanden ist, trägt den Titel „Über das Meer“. Kürzlich ist sie auch auf Tschechisch erschienen.

Was hat Sie zu Ihrer Reise bewogen? Wollten Sie zeigen, was Menschen auf der Flucht erleben – oder war es Sensationsgier?

Stanislav Krupař: Ehrgeiz war bestimmt auch ein Grund. Aber als ich mich auf die Reise vorbereitete, habe ich wirklich nicht darüber nachgedacht, wie lange ich von dieser Reportage leben kann. Wir wollten natürlich Zeugnis ablegen. Ich denke aber, dass das für Wolfgang mehr Gewicht hatte. Für mich persönlich steckte dahinter eher eine große Neugierde. Ich würde mir sehr wünschen, die tschechische Gesellschaft mit so einer Reportage zu verändern. Aber wenn ich die schrecklichen Diskussionen hierzulande verfolge, ist es für mich schwierig zu glauben, dass ich etwas bewirken kann. In Deutschland sieht man, dass Themen diskutiert werden, dass die Menschen nachdenken und offen sind. Dort ist es viel einfacher, vom Sinn einer solchen Arbeit überzeugt zu sein.

Wie lange dauerten die Vorbereitungen?

Krupař: Insgesamt sieben Monate. Wir haben jemanden gesucht, dem wir uns anschließen können, der Englisch spricht und mit unserem Vorhaben einverstanden ist. Gefunden haben wir schließlich den Mann, den wir in unserem Buch Amar nennen. Amar ist ein Händler aus Homs, der mit seiner Familie nach Ägypten geflohen war und sich dort auf die Reise über das Mittel­meer vorbereitete.

Wie lief die Reise ab?

Krupař: Zuerst haben wir zwei Abende bei Amars Familie in Kairo verbracht. Ich habe dort die Momente des Abschieds fotografiert. Amar hat drei Töchter, die älteste war damals 17, die jüngste fünf Jahre alt. Danach machten wir uns auf den Weg zur Schmugglerbande. Mit ihnen war schon alles abgesprochen. Wir haben uns für zwei Englischlehrer aus dem Kaukasus ausgegeben. Jeder von uns hat dafür 3.200 Dollar bezahlt. Dann waren wir eine Woche lang Teil einer Flüchtlingsgruppe. Die Schleuser brachten uns zuerst ans Meer, nach Alexandria. Danach versteckten sie uns in verschiedenen geheimen Wohnungen. Einmal wurden wir sogar von anderen Schmugglern entführt. Vom Strand wurden wir in Schlauchbooten auf eine kleine Insel transportiert und dort abgesetzt. Das Mutterschiff sollte uns abholen. Am Ende hat uns aber die ägyptische Kriegsmarine gefasst und wir sind im Gefängnis gelandet.

Warum hat die Flucht nicht geklappt?

Krupař: Wir haben den Fehler gemacht, dass wir zu ungeduldig waren und gleich im April aufgebrochen sind. Wir wollten die Reportage so früh wie möglich schreiben, damit niemand schneller ist. Strategisch war das aber eine falsche Entscheidung. Wenn wir drei Wochen gewartet hätten, wäre unsere Chance auf Erfolg viel größer gewesen. Wir sind nämlich mit dem ersten Schiff nach der Winterpause gefahren, da lief noch nicht alles rund. Die Schmuggler-Gangs hatten noch nicht alles im Griff und wussten noch nicht, wen sie bestechen müssen. Sehr wahrscheinlich hat es genau deswegen nicht geklappt.

Wie sah das Schleuser-Netzwerk aus?

Krupař: In Kairo habe ich die Schmuggler erst gesehen, als wir in ihr Auto gestiegen sind. Wir haben mitbekommen, dass es ein ziemlich großes Geschäft ist – fast wie die Tourismusbranche. Es ist zwar illegal, aber es gibt relativ feste Strukturen. In Alexandria sind mehrere Gangs aktiv, von denen jede ein gewisses Gebiet kontrolliert.

Was für Menschen begeben sich auf eine so gefährliche Reise?

Krupař: Mit ein paar Ausnahmen waren fast alle sehr wohlhabend. Oder sie waren zumindest viel reicher als alle meine Freunde hier in Prag. Mit uns saß ein Besitzer einer Schokoladenfabrik im Gefängnis, Amar selbst stammte aus einer vermögenden Familie, ein anderer hatte mehrere Geschäfte mit Antiquitäten und Teppichen in Damaskus. Die einzigen weniger Reichen waren Bisan, ein 13-jähriges Mädchen, das in unserem Buch eine relativ wichtige Rolle spielt, und ihre Familie.

Hatten Sie unterwegs Angst?

Krupař: Furchtbare Angst. Vor allem das Einschiffen – damit fängt das Buch an – war ein sehr dramatischer Moment. Bei der Festnahme hatte ich ebenfalls große Angst und auch im Gefängnis. Als wir unsere Botschaften kontaktierten, wurde uns mitgeteilt, dass unsere Entlassung auch mehrere Monate oder vielleicht Jahre dauern kann. Da habe ich allmählich die Nerven verloren.

Ist es mittlerweile schwerer geworden, nach Europa zu kommen?

Krupař: Im Gegenteil. Ich denke, dass es nicht mehr viel einfacher geht als jetzt. Ich war kürzlich in Afghanistan. Dort will fast jeder nach Deutschland. Wenn man es durch den Iran bis in die Türkei geschafft hat, dann ist es unglaublich einfach, vielleicht eine Stunde mit dem Schlauchboot bis Europa. Natürlich sterben auch auf diesem Weg Menschen. Aber gegen die zehn Tage auf offenem Meer ist das nichts. Wenn die Türkei die Grenzen schließt, werden es wieder viel mehr Menschen über Ägypten versuchen.

Warum fliehen Menschen aus Afghanistan? Herrscht dort Krieg?

Krupař: Ja. Sicher nicht so wie in Syrien, denn die Zahl der Kämpfer ist dort viel geringer. Aber die Situation ist trotzdem schwierig. Durch die Anwesenheit der Europäer sind die Preise in Afghanistan dramatisch gestiegen. Die Leute, die dort für westliche Organisationen arbeiteten, verdienten drei- bis viermal so viel wie andere. Jetzt sind diese Arbeitgeber weg, weil es für sie dort zu gefährlich ist. Ihre afghanischen Mitarbeiter haben ihre Stellen verloren und fühlen sich zugleich bedroht, weil sie sich durch die Zusammenarbeit mit den Ausländern verdächtig gemacht haben. Sie sind in Lebensgefahr und es kommt ihnen sinnlos vor, für 100 Dollar im Monat zu arbeiten, wenn sie vorher ein Vielfaches bekamen. Zum Teil fliehen sie natürlich, weil sie auf ein besseres Leben hoffen. Das kann ich niemandem übelnehmen. Aber ob das für Europa akzeptabel ist, weiß ich nicht.

Was meinen Sie mit „akzeptabel“?

Krupař: Ob wir alle aufnehmen können, die es besser haben wollen. Andererseits: Wenn ich dort wäre, würde ich auf jeden Fall abhauen. Ich wäre nicht gerne in der Position derer, die darüber entscheiden, wen wir aufnehmen und wen nicht.

Sind Amar und seine Familie ­„akzeptabel“?

Krupař: Wenn es jemanden gibt, der wirklich ein Gewinn für unsere Gesellschaft sein wird, dann sind es Amars Töchter. Ich bin überzeugt, dass sie innerhalb von zwei Jahren Deutsch lernen und Gutes für die Gesellschaft leisten werden. Ihr Vater schafft es wahrscheinlich auch noch, Deutsch zu lernen. Doch ob er mit 51 wirklich ein neues Leben beginnen kann, das weiß ich nicht. Und ob er sein Asyl verdient? Er war in Syrien im Widerstand gegen Assad aktiv. Dort würde ihn ein ziemlich sicherer Tod erwarten.

Warum ist er von Ägypten weiter nach Deutschland geflüchtet?

Krupař: In Kairo ging es Amar nicht so schlecht, aber er hatte riesige Angst davor, dass in Ägypten auch ein Bürgerkrieg ausbricht – wie in Syrien. In Ägypten regiert eine Militärjunta, vor deren Verbrechen der Westen die Augen schließt, weil er sich wünscht, dass es wieder Ruhe gibt. Um welchen Preis diese Ruhe erreicht wird, ist heutzutage allen egal. Für Syrer haben sich die Bedingungen in Ägypten verschlechtert. Sie müssen alle sechs Monate ein neues Visum beantragen und wissen nie, ob sie es bekommen. Außerdem hatte Amar Angst um seine Töchter. Sie sind eine sehr liberale Familie, die Mädchen tragen keine Kopftücher, das war in Ägypten ein Problem.

Haben Sie noch Kontakt zu den Leuten, mit denen Sie geflüchtet sind?

Krupař: Ja. Amar ist es inzwischen gelungen, nach Deutschland zu gelangen. Er hat politisches Asyl bekommen und konnte seine Familie nachholen. Das Wiedersehen war ein großes Fest. Ich war dabei. Wir sind zusammen zum Flughafen gefahren und haben seine Familie abgeholt. Sie wohnen jetzt in einem Vorort von Frankfurt. Es war ein großartiges Gefühl, sie dort zu sehen. Wir sind gemeinsam nach Frankfurt gefahren. Sie wollten unbedingt die Wolken­kratzer sehen und waren unglaublich begeistert. Wir sind durch eine deutsche Plattenbau-Vorstadt gelaufen, das Wetter war so grau. Mir kam das alles so langweilig vor, aber sie waren völlig außer sich und fanden alles so unglaublich schön.

Ist die Reise, die Sie unternommen haben, einzigartig?

Krupař: Wolfgang arbeitet seit etwa 20 Jahren als Journalist und ich glaube, auch er würde sagen, dass diese Reportage völlig von seiner sonstigen Arbeit abweicht. Außerdem habe ich das Gefühl, dass uns mit den Leuten, die mit uns im Gefängnis saßen, etwas Tieferes verbindet. Ohne dass wir uns das sagen müssten. Ich glaube, wenn ich jetzt nach Deutschland oder Schweden gehen müsste, könnte ich bei ihnen wohnen und sie würden mich aufnehmen. Ihnen geht es, glaube ich, ähnlich. Ich war in wichtigen Momenten ihres Lebens dabei. Als sie sich verabschiedet haben und nicht wussten, wann sie sich wiedersehen – oder ob überhaupt jemals. Und dann war ich auch dabei, als sie sich wiedergefunden haben. Das war einfach … schön.

Wolfgang Bauer: Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Eine Reportage. Mit Fotos von Stanislav Krupař, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 133 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-518-06724-6

Wolfgang Bauer: Přes moře. S uprchlíky na cestě do Evropy. Fotografie Stanislav Krupař. Grada-Verlag, Prag 2015, 128 Seiten, 249 CZK, ISBN 978-80-247-5819-0