Im sanften Sog durchs Hügelland
Auf dem Paneuropa-Radweg von Nürnberg nach Prag: Eine Grenzerfahrung in sechs Etappen
26. 8. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton
Seit 2008 verbindet der Paneuropa-Radweg Paris mit Prag. Für das Drei-Länder-Projekt wurden zum größten Teil bestehende Strecken genutzt und – mit Geldern aus europäischen Fördertöpfen – neu ausgeschildert. In Deutschland sind Reisende meist auf Radwegen unterwegs, in Tschechien vor allem auf wenig befahrenen Landstraßen sowie Wald- und Feldwegen. PZ-Redakteurin Corinna Anton hat die Strecke von Nürnberg nach Prag getestet.
Nürnberg » Sulzbach (65 km)
Es soll einer der heißesten Tage des Sommers werden. Wir starten um 7.30 Uhr gut 20 Kilometer westlich von Nürnberg, um einen Großteil des Weges zurückzulegen, bevor die Sonne am höchsten steht. Nach etwas mehr als einer Stunde sehen wir zum ersten Mal das Schild mit dem kleinen Fahrrad und den gelben Sternen auf dunkelblauem Untergrund; wo die Flüsse Rednitz und Pegnitz sich treffen, stoßen wir auf den Paneuropa-Radweg. Würden wir nach links abbiegen, wären es gut 1.000 Kilometer bis Paris, aber wir halten uns rechts, knapp 500 Kilometer bis Prag liegen vor uns. Ich summe die Europahymne und grüße gut gelaunt die vielen Menschen, die zwischen Fürth und Nürnberg zur Arbeit oder zum Picknick in den Stadtpark radeln. Den Hauptmarkt mit dem Schönen Brunnen lassen wir hinter uns – wer die Stadt nicht kennt, sollte hier zumindest eine kurze Besichtigung einplanen – und folgen der Pegnitz, vorbei am Wöhrder See und an Behringersdorf über Lauf bis Henfenfeld. Auf dem oft schattigen Abschnitt fährt es sich trotz voll gepackter Satteltaschen fast wie von selbst, meist geht es flach geradeaus. Erst nach der Mittagspause erwischt uns die Augustsonne, der Fahrradweg entlang der Bundesstraße B14 von Hersbruck bis Weigendorf zieht sich, der Wind bläst uns plötzlich ins Gesicht. Doch ab Weigendorf verläuft die Strecke wieder nahe am Wasser, am Etzelbach geht es über Etzelwang bis Neukirchen. Hier verläuft die Mitteleuropäische Wasserscheide zwischen Donau und Rhein. Für uns heißt das auf den letzten Metern noch einmal kräftig treten. Plötzlich hat das Gepäck doch Gewicht. Aber Sulzbach-Rosenberg ist in Sicht und belohnt nach einem letzten steilen Anstieg zum Schloss mit einer sehenswerten Altstadt. Ein Blick in die Stadtgeschichte verrät: 1355 wurde Sulzbach die Hauptstadt des neugeschaffenen Territoriums Neuböhmen unter Kaiser Karl IV. – Prag fühlt sich gar nicht mehr so weit an.
Sulzbach » Neustadt an der Waldnaab (70 km)
Am nächsten Morgen rückt Prag in schier unerreichbare Ferne. Von Sulzbach-Rosenberg geht es in Richtung Hahnbach unerbittlich bergauf und bergab. Diesmal sind wir froh, als wir von Gebenbach über Hirschau bis Schnaittenbach ein Stück auf einem neu geteerten Radweg entlang der B14 fahren dürfen. Auf dem Asphalt rollt es sich jedoch so gut, dass wir die (gut versteckte) Abzweigung ins Naabtal verpassen. Wir machen Mittagspause in einer Dorfwirtschaft. Am Tisch sitzen Männer, die offenbar gerade von einer Baustelle oder aus dem Wald gekommen sind. Sie trinken ein Hefeweizen nach dem anderen, und sprechen eine Sprache, die selbst für Mittelfranken nicht einfach zu verstehen ist. „Schnell, hilf uns, der Habicht kommt“, rufen plötzlich zwei Mädchen im Grundschulalter und rennen aus dem Haus. Tatsächlich, am Himmel kreist etwas Großes, das die meisten Gleichaltrigen wohl bestenfalls als „Vogel“ identifiziert hätten. Willkommen in der Oberpfalz. Weiter geht es an der Naab entlang bis Weiden. Wer etwas von der Stadt sehen (oder noch einmal einkehren) will, muss den Paneuropa-Radweg verlassen, denn er führt am Zentrum vorbei. Wir haben kurz vor Neustadt Durst und sehen auf einem Gartengrundstück eine bayerische Fahne wehen. Ein Verein schenkt hier Getränke aus, überwiegend ältere Männer sitzen mit Flaschenbier im Schatten, begrüßen uns mit „Habedehre“ („Habe die Ehre“) und unterhalten sich darüber, was in der letzten Folge von „Dahoam is Dahoam“ geschehen ist, der Daily Soap im Bayerischen Fernsehen. Er sei auch schon mit dem Rad in Prag gewesen, sagt ein Rentner, der ein E-Bike besitzt. Ob es stimmt, weiß man nicht.
Neustadt an der Waldnaab » Bělá nad Radbuzou (75 km)
Der dritte Tag beginnt mit dem schönsten Teilstück der Reise. Von Neustadt bis zur Grenze verläuft der 50 Kilometer lange Bockl-Radweg. Von 1886 an rollten Dampflokomotiven auf der Strecke, ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts legte die Bahn sie schrittweise still. Nachdem 1995 der letzte Zug gefahren war, dauerte es zehn Jahre, bis 2005 der Radweg auf der ehemaligen Bahntrasse eröffnet wurde. Er führt vorbei an Störnstein, Floß, Vohenstrauß und Waidhaus bis Eslarn. Die Grenzgemeinde lag einst am Eisernen Vorhang; heute müssen Radfahrer nur einige Höhenmeter überwinden, bevor sie bei Tillyschanz nahezu unbemerkt das Schild mit der Aufschrift „Landesgrenze“ passieren. Die Schilder für Radfahrer sehen nun anders aus (gelb mit Pfeilen, wobei Kilometerangaben und Radwegnummern im schnellen Vorbeifahren gelegentlich verwechselt werden können), daran muss man sich auf den ersten Kilometern gewöhnen. Die Wege sind oft schlechter als zwischen Nürnberg und der Grenze. Die knapp 20 Kilometer bis Bělá nad Radbuzou ziehen sich gewaltig. Auf teils grobem Schotter und holprigen Waldwegen geht es steil bergauf und bergab – und immer wieder vorbei an „verschwundenen Ortschaften“, an Mauerresten und Steinhaufen, wo bis zum Zweiten Weltkrieg von Deutschen besiedelte Dörfer lagen. In der Pension am Dorfplatz warten das erste tschechische Bier, ein echter „Štamgast“ (so die Aufschrift auf seinem T-Shirt) und ein gesprächiger Einheimischer, der sich dreimal bekreuzigt, als er von unserem Vorhaben hört, mit dem Rad bis nach Prag zu fahren. In der Nacht gibt es noch jede Menge Radau auf dem Flur, Frauen, die (vergeblich) versuchen, ihre Männer aus dem Wirtshaus abzuholen und eine kleine Schlägerei auf der Straße; zum Frühstück serviert die Köchin selbst gemachte Buchteln mit Mohnfüllung.
Bělá nad Radbuzou » Pilsen (80 km)
Es ist faszinierend, wie langsam eine Landschaft vergisst. Auf dem Weg von Bělá nad Radbuzou in Richtung Kladruby kommen wir an einem alten Schuppen mit der (deutschen) Aufschrift „Feuerlöschgeräte 1931“ vorbei und an einem Kriegerdenkmal, das die Worte schmücken: „In treuem Gedenken den tapferen Helden 1914–1918“. Die Menschen, die wir unterwegs treffen, denken nicht so weit zurück, wenn sie hören, dass wir aus Deutschland kommen. Er habe eine Zeit lang in Stuttgart gearbeitet, erzählt ein Wirt kurz vor Pilsen und spricht dann plötzlich über Fußball, über tschechische Spieler, die in der Bundesliga noch ein wenig Geld verdienen, bevor sie ihre Karriere beenden. Dicke, dunkle Wolken ziehen sich über uns zusammen. Wir wollen die europäische Kulturhauptstadt 2015 trocken erreichen und kürzen vor dem Ziel ein bisschen ab, nehmen eine Straße mit mehr Verkehr, aber weniger Berg- und Talfahrt. Es ist das dritte Mal an diesem Tag, dass wir vom Paneuropa-Radweg abweichen. Nachdem wir bereits einige Kilometer Wald- und Wiesenfahrt mit zwei toten Rehen am Wegesrand hinter uns hatten, umfuhren wir am Vormittag einen Abschnitt, der laut tschechischer Fahrrad- und Wanderkarte nur für Mountainbiker geeignet war. Und in Kladruby waren wir so fasziniert vom Anblick des ehemaligen Benediktinerklosters, dass wir eine Abzweigung verpassten. Den Tag mit den schwierigsten Straßenverhältnissen haben wir hinter uns.
Pilsen » Hořovice (60 km)
Aus Pilsen heraus (in der Kulturhauptstadt lohnt sich ein längerer Stopp oder sogar ein Ruhetag) folgen wir eine Weile dem Fluss Úslava, dann geht es laut Wegbeschreibung durch „sanftes Hügelland“ bis Rokycany. Besonders sanft kommen uns die Hügel nicht vor, dafür entschädigt mehrfach ein traumhafter Ausblick auf Pilsen mit seinen Brauerei- und Kirchtürmen. Nach der Mittagspause folgen wir dem Fluss Klabava, in dem wir unsere Füße waschen und Getränke kühlen. Ein paar „sanfte Hügel“ müssen wir noch queren, bevor es auf den letzten Kilometern immer leicht bergab bis Hořovice geht und am Ende – ähnlich wie in Sulzbach-Rosenberg – noch einmal steil hinauf zum Ziel, einem Hotel am Marktplatz, das sich offensichtlich gerade im Umbau befindet. In der Grillbar nebenan treffen wir zwei von sehr wenigen Radlern, die auch auf dem Weg nach Prag sind, allerdings auf der Route von München über Regensburg. Ansonsten steht der Paneuropa-Radweg offenbar nicht hoch im Kurs. Wir begegnen in sechs Tagen nur einem Paar aus Hersbruck, das von Prag aus in Richtung Nürnberg nach Hause fährt, und einer Gruppe Ingolstädter (alle mit E-Bike), die bei Pilsen nach München abbiegen werden.
Hořovice » Prag (70 km)
Von Hořovice aus ist der Sog deutlich zu spüren. Je näher wir der Hauptstadt kommen, desto breiter und besser werden die Straßen, desto schöner und gepflegter die Häuser und Gärten, an denen wir vorbeifahren, desto neuer und größer die Autos, die uns überholen. Als wir bei Zadní Třebaň die Berounka erreichen, ist der Rest fast ein Spaziergang, meist auf asphaltierten Radwegen. Ein letztes Mal verlassen wir den Paneuropa-Radweg. Wir queren die Moldau nicht in Prag-Zbraslav über die von Autos befahrene Brücke, sondern erst bei Modřany mit einer Fähre, die nur zwei bepackte Räder samt Radler auf einmal befördern kann und für uns vier eine Sonderschicht einlegt. Auf den letzten Kilometern empfiehlt es sich, in einem der vielen Biergärten an der Moldau einzukehren, spätestens am Náplavka-Ufer in Zentrumsnähe. Dann hat das Fahrrad nach knapp 450 Kilometern eine Weile Pause. Denn Prag lässt sich doch noch immer am besten zu Fuß erkunden.
Route und Karten: www.paneuropa-radweg.de
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