Immer reicher, immer unzufriedener
Langzeitstudie: Tschechen wünschen sich eine Regierung der „starken Hand“
28. 1. 2016 - Text: Ivan Dramlitsch
Materiell geht es den Tschechen so gut wie nie. In den vergangenen 25 Jahren haben sich die Reallöhne verdoppelt, immer mehr Menschen besitzen immer mehr. Doch führt das keineswegs zu einem gesteigerten Wohlbefinden. Im Gegenteil: 71 Prozent der Tschechen sind überzeugt, dass sich die Gesellschaft zum Schlechten entwickelt. Zu diesem Ergebnis kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie der Beratungsgesellschaft KPMG mit dem Titel „Tschechen 1990–2015“. Dafür wurde unter anderem auch bisher nicht näher untersuchtes Datenmaterial des Meinungsforschungsinstituts STEM analysiert.
Die veröffentlichten Daten dokumentieren einen deutlichen materiellen Aufstieg der tschechischen Bevölkerung. So besitzen heute 62 Prozent der Haushalte ein Eigentum in Höhe von einer Million Kronen (etwa 37.000 Euro) oder mehr. 1995 waren es – inflationsbereinigt – lediglich 46 Prozent. Der Brutto-Reallohn hat sich seit 1993 nahezu verdoppelt, derzeit liegt das Durchschnittsgehalt bei knapp 1.000 Euro. Für die große Mehrheit der Bevölkerung gilt dabei das Primat der Ökonomie: 63 Prozent geben an, dass ihnen der Lebensstandard wichtiger ist als ein demokratisches System. Lediglich 37 Prozent messen den Werten Freiheit und Demokratie einen höheren Stellenwert bei als ihrem materiellen Wohlergehen.
Insgesamt beherrscht die Tschechen ein Gefühl der Ungerechtigkeit: Waren zu Beginn der neunziger Jahre noch 30 Prozent überzeugt, dass die Gesellschaft gerechter wird, denkt sich dies heute nur jeder Sechste. 40 Prozent sind sogar sicher, dass die gesellschaftlichen Veränderungen Ungerechtigkeit befördern. „Verkürzt könnte man sagen, dass es uns besser geht, wir uns aber schlechter fühlen“, kommentierte die Daten der Chef von KPMG in Tschechien Jan Žůrek. „Aus unserer Analyse kann man offenbar ableiten, dass dafür vor allem eine gewisse Zukunftsangst verantwortlich ist. Das Gefühl der Bedrohung wird in der Bevölkerung größer, im vergangenen Jahr wurde das durch die Kommunikationsoffensive von einigen ,Apokalyptikern‘ entsprechend angeheizt.“
Das Bedrohungsgefühl schlägt sich auch in der Entwicklung der politischen Überzeugungen nieder. Immer weniger Menschen halten das demokratische System für besser als die Zeit des real existierenden Sozialismus. Derzeit sind es gerade einmal 51 Prozent. Die größte Unzufriedenheit mit den aktuellen Verhältnissen herrscht bei den über 60-Jährigen. Der Wunsch nach einer autoritären Regierung der „starken Hand“ ist aber in allen Altersklassen ähnlich stark ausgeprägt: Zwei Drittel der Bevölkerung wünscht sich das. In den neunziger Jahren waren dies „lediglich“ 45 Prozent.
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