In den Fängen des Verführers

In den Fängen des Verführers

„Mefistofele“ gehört zu den unbekannteren Opern der italienischen Romantik. Vergangene Woche feierte sie ihre Prager Premiere in der Staatsoper

28. 1. 2015 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: ND

 

Mit „Mefistofele“ von Arrigo Boito eröffnete das Nationaltheater Donnerstag vergangener Woche das alle zwei Jahre stattfindende Prager Opernfestival. In insgesamt 17 Vorstellungen präsentieren tschechische und slowakische Theaterhäuser ihre Inszenierungen. „Mefistofele“ wird im Gegensatz zu den Gastspielen aus Košice, Olomouc oder Brünn aber fester Bestandteil des regulären Prager Spielplans bleiben.

Mit der Aufführung des „Mefistofele“ hat die Opernabteilung des Nationaltheaters keine leichte Wahl getroffen. Der Komponist Arrigo Boito (1842–1918) ist weitgehend unbekannt und die Textvorlage seiner Oper wirft die Frage auf: Wie kann eine Inszenierung gelingen, wenn das Libretto nichts taugt?

Schon kurze Zeit nach der Mailänder Uraufführung im Jahre 1868 gaben Kritiker vernichtende Urteile über den Text ab. Boito hat das Libretto zu seiner einzigen Oper selbst geschrieben. Zur Verteidigung Boitos sei hinzugefügt, dass er für seinen Freund Giuseppe Verdi die Librettos für dessen zwei so erfolgreiche Opern „Costello“ und „Falstaff“ verfasst hat.

Bei „Mefistofele“ wählte Boito aus Goethes Faust I und II recht willkürlich einige Akte aus, die kaum einen Zusammenhang ergeben. Sie zeigen Faust weder in seiner Größe und Tragik noch in seiner Blindheit und seinem Drang nach Erlösung, sondern allenfalls als ein Versuchskaninchen in den Fängen des diabolischen Verführers. Da nützt es auch wenig, dass Boito über weite Strecken Goethes Text wörtlich übernimmt, denn seine eigenen Einschübe erweisen sich umso mehr als Plattitüden. So zum Beispiel, wenn Faust seine Erlösung durch das Bekenntnis „Die Bibel ist meine Schutzburg“ erwirkt, ohne dass der Zuschauer erfährt, wie der Protagonist zu dieser Einsicht gelangt ist.

Betont nüchtern
Regisseur Ivan Krejčí und Dirigent Marco Guidarini rechtfertigen die Prager Aufführung mit der Begründung, dass Boito mit seiner Oper Grundfragen der menschlichen Existenz berühre und deshalb höchst aktuell sei. Die Oper als moralische Anstalt, bei der dann dem Text eine Schlüsselrolle zukommt? Schiller hatte gute Gründe, seinen Theaterstücken eine aufklärerische Rolle zuzuschreiben. Aber wie kann eine Oper heute den Zuschauer in seinen existentiellen Fragen belehren, zumal wenn das tschechische Publikum bei dem in italienischer Sprache gesungenen Stück darauf angewiesen ist, ständig auf die Schrifttafel mit der tschechischen Übersetzung zu blicken?

Boitos „Mefistofele“ ist bei weitem nicht die einzige Oper, deren Libretto wenig Qualität aufweist. Die wenigsten der etwa 70 Werke, die weltweit zum festen Repertoire der Opernhäuser gehören, zeichnen sich durch ansprechende Libretti aus. Der überwiegende Teil dieser Stücke stammt aus dem 19. Jahrhundert. Manche Intendanten versuchen, dem altmodischen Inhalt einen modernen Anstrich zu verleihen, indem sie eine Oper etwa durch die Gestaltung des Bühnenbildes mit dem aktuellen Zeitgeschehen zu verknüpfen suchen.

Der Versuchung, Fausts Streben nach Glück und Mefistofeles Verführungskünste etwa mit der heutigen Konsumgesellschaft zu verbinden, hat Regisseur Krejčí nicht nachgegeben. Seine Inszenierung gab sich betont nüchtern. Verzichtet wurde auch auf aufwendige Kostüme und Requisiten. Auf dem fast leeren Bühnenraum konnten sich Chor und Ballettgruppe dank einer hervorragenden Choreografie eindrucksvoll entfalten.

Höchste Ansprüche stellt die Rolle des Mefistofele an den Bassisten. Štefan Kocán meisterte die hohen Anforderungen, jedoch ohne dabei wirklich zu brillieren. Doch nicht der mit Vorschusslorbeeren bedachte Kocán, der schon an der Wiener Oper und der Mailänder Scala große Erfolge gefeiert hat, war der Star des Abends, sondern die tschechisch-bulgarische Sopranistin Christina Vasileva in der Rolle der Margherita. Ihre ausdrucksstark vorgetragene Arie „L’altra notte in fondo al mare“ in der Kerkerszene bildete eindrucksvoll einen der  Höhepunkte des Abends.

Fazit: Dem Ensemble gelang eine Aufführung, die das dürftige Libretto vergessen ließ. Orchester, Solisten, Chor sowie eine gelungene Choreografie eröffneten der Phantasie des Zuschauers einen Raum, in dem sich Emotionen, Stimmungen und Affekte entfalten konnten. Die Musik in Bilder und die Bilder in Musik zu verwandeln, dieser eigentlichen Aufgabe der Oper wurde die Prager Aufführung gerecht.

Mefistofele. Státní opera Praha, Oper in vier Akten von Arrigo Boito, Dauer: 200 Minuten mit zwei Pausen, nächste Vorstellungen: 5. & 22. Februar, 10. März, www.narodni-divadlo.cz