In der Josefstadt
Auf den Spuren des Schriftstellers Walter Serner
6. 12. 2012 - Text: Volker H. AltwasserText: Volker H. Altwasser; Bild: Christian Schad, 1916
Vor der V Kolkovně 5 sucht man ihn vergeblich. An der Hauswand ist kein Schild, dass hier einer der berühmtesten tschechischen Schriftsteller deutscher Sprache bis zu seinem Tod gewohnt hat. Auch im Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren weiß man nichts über ihn. Man ist eher skeptisch als aufgeschlossen, eher abwartend als neugierig. Es ist die gleiche Haltung, an der der Autor einst auch gescheitert ist. Ist Prag der Hort der gescheiterten Schriftsteller?
Die Straße hat nur zehn Häuser, auf der rechten Seite vier breite, auf der linken Seite sechs schmale. Es ist eine kleine Straße, die parallel zum wichtigsten Einkaufsboulevard Prags liegt. Sie läuft auf die Spanische Synagoge zu und in ihrer Straßenflucht sieht man eine kleine katholische Kirche. Hier hat er also den Lebensrest verbracht, der aus Liebe zu seiner Frau und um sich vom Vater – Zeitungsmogul in Karlsbad – abzugrenzen, den jüdischen Glauben verließ und in den katholischen eintrat, weit vor der Machtergreifung der Nazis in Deutschland, was diese jedoch nicht daran hinderte, ihn trotzdem zu verschleppen und zu ermorden. Mit ihm auch seine nichtjüdische Frau, was ebenfalls eigenartig ist. Was steckt hinter dem Ende dieser einzigartigen Lebensgeschichte?
Die Häuser selbst der kleinen Straße sind sechsstöckige Prachtbauten mit hohen Fenstern, böhmischer Barock mit halbrunden Erkern, bis eben auf die Nummer fünf, die mit ihren viereckigen Erkern und der schlichten Fassade wie hanseatisch wirkt; fremd allemal zwischen den anderen Häusern, doch im Inneren findet man auch hier zum Hof hin gerichtete Flurfenster aus buntem Bleikristall. Die Wohnungstüren sind grün gestrichen, hohe Flügeltüren, denen zur Seite große Sichtfenster gegeben worden sind, durch die das Personal erst einmal schauen konnte, wer da überhaupt klingelt. Der weltberühmte Prager Dichter (nicht Kafka) ist also nicht in die Obdachlosigkeit verschwunden, das ist die gute Nachricht, nachdem er von den Kulturjournalisten aller Zeitungen beständig attackiert worden ist und im Jahre 1927 beschlossen hat, spurlos zu verschwinden. Man wusste damals, dass er sich in Prag aufhielt, aber niemand wusste etwas Genaues. Bis 1942 lebte er mitten im jüdischen Viertel als Sprachlehrer, unauffällig und von der Idiotie der Zeitungsgilde echauffiert, bis ihn die Nazis dann doch auftrieben und über Theresienstadt bei Minsk ermordeten.
Hier lebte er als Sprachlehrer, zur Untermiete in einem der Dienstzimmer einer dieser Wohnungen. Zusammen mit seiner Frau. In den Erdgeschossen der Häuser finden sich große und lange Restaurants, Kritikersterne für Meisterköche sind hier keine Seltenheit, nur eben in der schlichten Nummer fünf nicht. Dort befinden sich zwei noble Einkleidungsgeschäfte, die als Geheimtipp gut betuchter Prager gelten; rechts die Dame, bitte schön, links der Herr, wenn es recht ist.
Wir reden natürlich über Walter Serner, der seinen Vaternamen Seligmann abgelegt hat. Walter Serner, für den sich Alfred Döblin maßgeblich eingesetzt hat, um ihn gegen die vielfältigen Verleumdungen zu schützen, die die Presse gegen ihn auffuhr, denn vor seiner Kapitulation und inneren Emigration mitten in Prag lebte er das großbürgerliche Leben eines Reisenden, der in allen Grandhotels Europas ein gern gesehener Gast war. Er lebte nur in teuren Hotels, schrieb aber Meistererzählungen über Huren, Zuhälter, Diebe und andere Kleinkriminelle im großbürgerlichen Milieu – und diesen Zwiespalt konnte man nicht verstehen. Man unterstellte ihm ständig, selbst ein Krimineller zu sein, der mit den Erzählungen von seinen Taten prahlte, man übersah dabei allerdings, dass es sich um einige der formal besten und grandiosesten Texte jener Zeit handelte. Serners Kollegen erkannten es sofort. Er gehörte in Zürich zum Gründerkreis des Dadaismus, er lernte Lenin persönlich kennen und gab ihm Kontra. Serner machte seinen Doktor der Rechtsgeschichte an der Universität zu Greifswald und stellte kurz darauf einem Freund (dem Schriftsteller Jung) ein Attest aus, damit dieser nicht am Ersten Weltkrieg teilnehmen musste. Kurz darauf musste er selbst von Deutschland in die Schweiz fliehen, als herauskam, dass er gar kein Doktor der Medizin war und somit auch keine Atteste erteilen durfte. In Zürich übrigens hatte der Mann von 1915 bis 1927 vierunddreißig Wohnsitze, in Prag jedoch nur einen einzigen.
„Jede Revolution ist die sehnsüchtige Empörung nach einer Faust“, schrieb er vor der russischen Oktoberrevolution. Dieser hellsichtige Mensch sollte recht behalten. Es gilt, ihn aus dem Vergessen zu zerren, in das ihn die Landespresse gestoßen hat. Es gilt, Doktorarbeiten zu verfassen, so wie es Thomas Milch getan hat, der in Deutschland eine achtbändige Serner-Werkausgabe herausbrachte. Es war übrigens eben dieser Milch, der die letzten Lebensjahre des in Karlsbad Geborenen rekonstruierte. Er brauchte ein ganzes Jahrzehnt, um herauszufinden, was aus Serner geworden ist, nachdem er seine Spur verwischt hat. Lange hatte man ihn in Mexiko vermutet, ein Weltmann wie er, dass er aber in der Josefstadt war und unter dem Mädchennamen seiner Frau lebte, das überraschte doch alle.
Walter Serners frivole und erotische Kriminalgrotesken haben den Schneid eines Karel Čapek, sie sind nur noch konkreter, direkter und ganz und gar trocken im Humor. Hier trinkt man Champagner, kein Bier. Es gilt, sie ins Tschechische zu übersetzen.
Über den Autor
Das virtuelle Literaturhaus Bremen und das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren haben zum dritten Mal das „Prager Literaturstipendium 2.0“ vergeben. Diesjähriger Preisträger ist Volker Harry Altwasser (Foto: Björn Steinz). Die Jury würdigte damit den in Rostock lebenden Autor für seinen Kurzprosatext „Dozent Hauptmüller“ sowie sein Vorhaben, der Lebensgeschichte des deutschsprachigen Schriftstellers Walter Serner in Prag nachzuspüren. Über ein Online-Tagebuch berichtete Altwasser im November von seinem vierwöchigen Stipendienaufenthalt und seiner Spurensuche an der Moldau.
Altwasser wurde 1969 in Greifswald geboren. Bevor er sich dem Schreiben widmete, übte er unterschiedliche Berufe aus, wie den eines Elektronikfacharbeiters, Heizers und Matrosen. 1998 nahm Altwasser ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig auf, das er 2002 mit einer Arbeit über die Werke Arthur Rimbauds und Sergej Jessenin sowie dem Lyrikmanuskript „Saudade“ abschloss. Bekannt wurde er 2003 mit seinem Roman-Debüt „Wie ich vom Ausschneiden loskam“. Außerdem erschienen bisher „Letzte Haut“ (2009), „Letztes Schweigen“ (2010) und „Letzte Fischer“ (2011). Für den letzten Band dieser Trilogie wurde Altwasser für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert und mit dem Italo-Svevo-Preis ausgezeichnet. Zuletzt veröffentlichte der Schriftsteller „Ich, dann eine Weile nichts“ (2012). (PLH/PZ)
Auf unbestimmte Zeit verschoben
Neue Formen des Unterrichts