„Jan Hus gehört in die Lutherdekade“
Offener Brief an Margot Käßmann, Botschafterin für das Reformationsjubiläum im Jahr 2017
3. 7. 2013 - Text: PZ
Mit der sogenannten Lutherdekade, die im September 2008 in Wittenberg eröffnet wurde, will die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) auf das Reformationsjubiläum 2017 vorbereiten. Zehn Jahre lang will sie mit einer Fülle von Veranstaltungen an den 500. Jahrestag des Thesenanschlags Martin Luthers 1517 an die Schlosskirche zu Wittenberg aufmerksam machen. In einem offenen Brief an Luther-Botschafterin Margot Käßmann kritisieren renommierte Historiker, Theologen, Slawisten und Germanisten aus Tschechien und Deutschland, dass die Lutherdekade dem tschechischen Reformator Jan Hus, dessen Verbrennung in Konstanz sich 2015 zum 600. Mal jährt, keine Beachtung schenkt. Der Brief im Wortlaut:
Sehr verehrte Frau Käßmann,
im Rahmen der von Ihnen geleiteten Lutherdekade wird dem Reformator Jan Hus nicht der ihm gebührende Platz eingeräumt. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass im Rahmen der zehnjährigen Lutherdekade alle nur möglichen Themen, Materialien, Ausstellungen und Aktionen bis hin zu „Lutherbier“ und „Lutherbrot“ angeboten werden, aber die Verantwortlichen offensichtlich am wichtigsten Wegbereiter der deutschen Reformation kein Interesse zeigen.
Dieses Desinteresse an der Böhmischen Reformation und an Jan Hus hat in Deutschland eine lange Tradition: Im Zuge des Erwachens des tschechischen Nationalismus wurden die Hussiten vor allem durch den „Vater der Nation“ František Palacký als Freiheitsbewegung gegen den autoritären deutschen Ständestaat und ihr bedeutendster Exponent, Jan Hus, als Vorkämpfer für Humanität und Gewissensfreiheit dargestellt. Dies wiederum veranlasste die Deutschböhmen, die um ihre Privilegien in der Habsburger Monarchie fürchten mussten, dazu, Hus und die Hussitische Reformation herabzusetzen. Evangelische Theologen erklärten, Hus habe seine Ideen vom englischen Reformator Wyclif abgeschrieben. Deutschböhmische Autoren verfassten Romane, in denen Hus als Lügner und antideutscher Agitator dargestellt wurde. Die Hussiten wurden als räuberische Horden bezeichnet. In den Werken der zwei bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, sucht man vergeblich nach dem Namen Jan Hus.
Zahlreiche deutsche Kirchen schmückt noch heute die Darstellung von Hus und Luther in Gestalt von Schwan (Luther) und Gans (Hus, von tschechisch „husa“: Gans), bei der man sich auf das Lutherwort beruft. „Johannes Hus hat von mir geweissagt, als er aus dem Gefängnis ins Böhmerland schrieb: Sie werden jetzt eine Gans braten. Aber in hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den sollen sie leiden. Da soll es auch dabei bleiben, wenn Gott will“. „Mein lieber Schwan“, ist man versucht zu sagen, „hättest Du nur mehr auf die Gans gehört. Die hat sich zumindest nicht wie Du zu solchen Ausfällen gegen Juden, Türken und die ,räuberischen Rotten der Bauern‘ hinreißen lassen.“
Während die deutsche Theologie Jan Hus allenfalls als „Vorreformator“ gelten lässt, haben tschechische Theologen zu Recht von der Böhmischen Reformation als der Ersten Reformation gesprochen. Sehr verkürzt gesagt, spricht nur wenig gegen die These, dass die meisten reformatorischen Ideen, die wir an Luther schätzen, sich schon 100 Jahre vorher in der Böhmischen Reformation finden. Dazu gehören die Ablehnung des Papsttums, die Kritik am Ablasshandel, die Konzentration auf die Bibel, ihre Übersetzung in die Volkssprache, die Aufwertung der Laien. Zu Recht wurde im vergangenen Jahr die Kirchenmusik und der Gemeindegesang als ein wichtiges Erbe der Reformation in den Mittelpunkt der Dekade gestellt. Es hat nur niemand darauf hingewiesen, dass das umfangreichste deutschsprachige Gesangbuch der Reformation mit 151 Liedern von Michael Weiße aus Mähren 1531 herausgegeben wurde, der von Luther übrigens hoch geschätzt wurde.
Zehn Jahre, von 2008 bis 2017, werden nun Gläubige und Ungläubige mit Luther konfrontiert. Wäre es nicht besser gewesen, von einer Reformationsdekade zu sprechen, statt mit der Lutherdekade sich jahrelang an der Person Luthers abzuarbeiten? Nun fällt ausgerechnet in diese Dekade mit dem Jahr 2015 der 600. Jahrestag der Hinrichtung des Jan Hus in Konstanz. Für die Veranstalter der Lutherdekade ist das offensichtlich kein Thema. Sie planen ein Jahr 2015 unter dem Motto „Bild und Bibel“.
Was spräche dagegen, dass Jahr 2015 unter das Motto „Die Böhmische und Deutsche Reformation“ zu stellen, wo doch Hus 600 Jahre zuvor im deutschen Konstanz den Feuertod erlitt? Dabei könnten die wechselseitigen Beziehungen zwischen der Böhmischen und der Deutschen Reformation in den Jahren ab 1521 im Mittelpunkt stehen, eine Epoche, in der es vermutlich zwischen den Christen und Gemeinden (vor allem zwischen Sachsen und Böhmen) mehr Kommunikation gab als heute. Die entscheidende Wende in der deutschen Reformation war bekanntlich Luthers Bekenntnis zu Jan Hus bei der Leipziger Disputation 1519. Wenige Jahre später studierten Angehörige der hussitischen Brüderunität in Wittenberg, die sogenannten linken Utraquisten in Prag sahen sich in ihrer Kritik an der römisch-katholischen Kirche von Luther bestätigt. 100 Jahre später verfasste der letzte Bischof der Brüderkirche, Johann Amos Comenius, einen deutschsprachigen Katechismus und gab ein Gesangbuch mit Liedern von Michael Weiße UND Martin Luther heraus. Und noch einmal hundert Jahre später finden Emigranten der Brüderunität aus Mähren Aufnahme in Sachsen, gründen die Herrnhuter Brüdergemeine und beginnen als Laien eine weltweite Mission bei den Ureinwohnern in Südafrika und Amerika.
Sehr verehrte Frau Käßmann, Ihnen ist es zuzutrauen, das Programm der Dekade für das Jahr 2015 so zu ändern, dass die Böhmische Reformation den entscheidenden Schwerpunkt bildet. Dabei geht es schließlich nicht nur um eine Korrektur historischer und theologischer Fehlurteile, sondern auch um die Möglichkeit, einen Beitrag für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen zu leisten. Deutschland hat mit Tschechien die längste gemeinsame Grenze. Dennoch sind ihre Beziehungen immer noch von Vorurteilen und mangelndem gegenseitigen Verständnis belastet, weil die leidvolle Geschichte der Okkupation und der Vertreibung nachwirkt. Mit der Würdigung der Böhmischen Reformation und des Reformators Jan Hus würde die deutsche Kirche auch ein Stück Friedens- und Versöhnungsarbeit leisten. Dazu noch ein konkreter Vorschlag: Tschechen und Deutsche könnten miteinander den Weg des Jan Hus nach Konstanz gehen. Hus ist 1414 von Prag nach Konstanz aufgebrochen und hat diesen Weg vom 10. Oktober bis 3. November 1414 zurückgelegt. Es gibt in Tschechien die Gruppe „Hussitische Städte“ (www.husitskamesta.net), die bereits in diesem Jahr zusammen mit deutschen Teilnehmern eine Fahrradtour von Tábor über Prag nach Konstanz plant.
Mit solchen und anderen Initiativen würden wir uns als treue Nachfolger Luthers erweisen. Auch Luther lehnte zunächst die hussitische Theologie als Ketzerei ab, bis er dann 1520 erstaunt bekannte: „Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen.“ Er lernte, Hus zu schätzen und sagte von ihm: „Er mus ynn meinem munde seyn, ynn deinem munde, ynn allen buechern, ynn allen oren.“ Über seine erste Lektüre von Hus’ Schriften schreibt er: „Da fand ich wahrlich so viel, dass ich mich entsetzte, warum denn solcher Mann verbrannt were, der so christlich und gewaltig die Schrift furen konnte.“
Verehrte Frau Käßmann, helfen Sie mit, dass Jan Hus und der Böhmischen Reformation in der deutschen evangelischen Kirche und in der Geschichte der Reformation der ihnen gebührende Platz endlich eingeräumt wird.
Prag, den 1. Juli 2013
Dr. Friedrich Goedeking, evangelischer Theologe, Prag
Die Mitunterzeichner
– Prof. Dr. Tilman Berger, Slawist, Tübingen
– František Černý, ehemaliger Botschafter in Deutschland, Prag
– Prof. Dr. Winfried Eberhard, Theologe und Historiker, Leipzig
– PhDr. Jiří Kořalka, Historiker, Prag/Tábor
– Eckhart Marggraf, Religionspädagoge, Karlsruhe
– Prof. Jana Nechutová, Philosophin, Brünn
– Prof. Dr. Marek Nekula, Slawist, Regensburg
– Mgr. Joel Ruml, Synodalpräses der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder
– Prof. Dr. Danuta Rytel-Schwarz, Slawistin, Leipzig
– Hans-Martin Schäfer, Dekan i.R., Pforzheim
– Prof. Dr. František Šmahel, Historiker, Prag
– Prof. em. Dr. Wolfgang F. Schwarz, Slawist und Historiker, Leipzig
– Prof. Dr. Hans Dieter Zimmermann, Germanist, Berlin
– Dr. Josef Füllenbach, Ministerialrat i.R., Prag
– Heinz-Theo Arntz, Kleve
– Dr. Friedhelm Groth, Pfarrer, Iserlohn-Sümmern
– Tanja Krombach, Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam
– Bruno Stracke, Religionslehrer und Schulleiter i.R., Erbach im Odenwald
– Dr. Gerhard Loettel, Pfarrer, Magdeburg
– Max Krumbach, Pfarrer i.R., Zweibrücken
– Kristina Nolte-Thumm, Wolfsburg
– Christian Klett, Olomouc
– Norbert Nordmann, München
– Dr. Erwin Aschenbrenner, Regensburg
– Štěpánka Dittrichová, Diplom-Kauffrau, Saarlouis
– Zdeněk Dytrt, Student, Jena
– Dr. Stefan Lanka, Langenargen
– Ulrich Beck, Studiendirektor i.R., Rosenfeld
– Minne Bley, Kirchenbezirk Konstanz, Radolfzell
– Lothar H. Hülsmann, Osnabrück
Der Erstunterzeichner des offenen Briefs, Dr. Friedrich Goedeking, lädt dazu ein, den Brief mitzuzeichnen. Dies ist möglich durch eine Mail an die Adresse: Friedrich.Goedeking@gmail.com
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