Kaisertreu und Patriot

Kaisertreu und Patriot

Seit 2005 leben Tschechiens Präsidenten in der Villa Karl Lumbes. An den Prager Arzt und Politiker wird jedoch kaum erinnert

27. 10. 2016 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Fotos: Jklamo/CC BY-SA 3.0

Die Recherche beginnt auf dem Stadtplan. Gesucht sind Prager Orte, die nach interessanten Personen benannt wurden. Der Blick fällt auf eine Grünfläche in Burgnähe. „Lumbeho zahrada“ steht da geschrieben – Lumbes Garten. Wer wohl dieser Lumbe war? Bedeutend muss er gewesen sein, denn wenige Meter weiter, umgeben von Bäumen, Sträuchern und Rasen, steht auch eine Villa, die seinen Namen trägt.

Die Lumbe-Villa liegt nur ein paar Minuten Fußweg von der Burg entfernt und wird nachts von Polizisten bewacht. Denn sie dient seit 2005 als Resi­denz der tschechischen Präsidenten. Darüber weiß man wenig – nicht nur Touristen glauben schließlich, der Präsident würde in der Burg wohnen. Dass das ein Irrtum ist, belegen Artikel aus dem Jahr 2013. Als Miloš Zeman in die Lumbe-Villa einzog, schrieben die Boulevardblätter, sein Vorgänger Václav Klaus habe die Innen­räume bereits streichen lassen. Ansonsten findet sich nicht viel über das Haus oder den, der es erbauen ließ. Nur ein Grab auf dem Malvazy-Friedhof im Stadtteil Smíchov, in dem ein gewisser Doktor Karl Wilhelm Lumbe begraben liegt: geboren 1807, gestorben 1885. Er war Prager Chirurg, Abgeordneter des Böhmischen Landtags und des Österreichischen Reichsrats, weiß die Prager Friedhofsverwaltung. Auf ihrer Internetseite gibt es aber noch eine Spur: Lumbes Grab wurde zur Adoption freigegeben.

Das ist in Prag nicht selten. Seit ein paar Jahren sucht die städtische Friedhofsverwaltung nach Paten für die Ruhestätten bedeutender Persönlichkeiten. So will sie die Gräber vor Verfall und Vergessen bewahren, wenn es keine Nachkommen gibt, die sich kümmern. Im Fall des Chirurgen hat sich vor zwei Jahren eine Patin gefunden. Sie heißt Julianne Weinberg Lessing. Weshalb hat sie Lumbes Grab adoptiert?

Die Friedhofsverwaltung leitet die Anfrage weiter. Wenige Tage später wartet Weinberg in einem Prager Kaffeehaus. Sie möge das Café Louvre in der Národní třída, „der ehemaligen Ferdinandstraße“, hatte sie geschrieben, und auch das Café Adria im gleichnamigen Palast. Das hatte geklungen, als sei sie sehr alt. Schließlich sagt seit fast hundert Jahren kein Mensch mehr Ferdinandstraße.

Aber die Dame, die nun im Adria sitzt und Kaffee trinkt, ist noch nicht einmal 50. Und ihr Interesse galt zunächst nicht Lumbe, sagt sie, sondern dessen Ehefrau Anna Maria von Thun-Hohenstein. Denn Weinbergs Großvater war zu Habsburger Zeiten Offizier in der kaiserlich-königlichen Armee und mit Anna Marias Familie befreundet. Aus Erzählungen weiß Weinberg daher, dass die Ehe der Lumbes etwas Besonderes gewesen sein muss.

Kein standesgemäßer Gatte
Im Jahr 1847 heiratete Karl Lumbe, der damals sein Medi­zin­­­­­studium abgeschlossen hatte und als Arzt praktizierte, die Gräfin von Thun-Hohenstein. „Das war zu hundert Prozent eine Hochzeit aus Liebe“, weiß Weinberg von Nachfahren. „Lumbes Schwiegereltern dürften von der Verbindung zunächst nicht begeistert gewesen sein, denn er war kein standesgemäßer Gatte für ihre Tochter.“

Zur Villa gehört auch ein großer Garten mit Blick auf den Veitsdom.

Die Rollen waren laut Weinberg trotzdem klassisch verteilt. Anna Maria kümmerte sich um die Kinder Franz und Anna und um den Haushalt. Dass die Familie und vor allem ihr Mann ihr Ein und Alles waren, beweist laut Weinberg ihr Sterbedatum: Es war der 11. Oktober 1885 – nur zwei Monate und fünf Tage nach dem Tod ihres Gatten.

Etwa ab den fünfziger Jahren wohnte die Familie dort, wo heute Miloš Zeman residiert, in der Straße U Brusnice. Lumbe hatte das Haus mit Blick auf die Burg 1852 gekauft und im Empire-­Stil umbauen lassen. Einige Jahre später gab er seinen Beruf auf und wechselte in die Politik. „Beide waren kaisertreu“, sagt Weinberg über Karl und Anna Maria. Lumbe habe bewiesen, dass man gleichzeitig böhmischer Patriot und ein Anhänger der Monarchie sein konnte. Von 1872 bis 1878 saß Lumbe im Böhmischen Landtag, ein Jahr länger im Öster­reichischen Reichsrat. Er gehörte der „Partei des verfassungstreuen Großgrundbesitzes“ an, die sich zum Liberalismus und zum Parlamentarismus bekannte. Ihre Mitglieder befürworteten das zentralistische Modell der österreichisch-ungarischen Monarchie und eine Allianz mit dem Deutschen Kaiserreich. Sie traten für die Versöhnung der Deutschen und Tschechen und die Gleich­berechtigung ihrer Sprachen ein.

„Jemand wie Lumbe wäre heute dringend nötig, er blieb auch als Politiker ein anständiger Mensch“, sagt seine Grab-Patin. Wer mit ihr über Lumbe spricht, hört irgendwann raus, dass auch sie eine bekennende Monarchistin ist. Dass sie von der „Ferdinandstraße“ gesprochen hat, ergibt nun Sinn. Will sie denn tatsächlich wieder einen Kaiser? Einen Habsburger vielleicht sogar?

„Ich versuche, keine Utopistin zu sein“, sagt die 48-Jährige. Ob es möglich wäre, die alte Donaumonarchie wiederzubeleben, sei „schwer zu sagen“. Auf jeden Fall ist sie überzeugt, dass der Vertrag von Trianon nie hätte unterzeichnet werden dürfen. Als einer der Pariser Vorort­verträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten, besiegelte er unter anderem die Gründung der Tschechoslowakischen Republik.

Weinberg hat nach eigener Aussage nichts gegen die Demokratie. Aber mit Blick auf die aktuell amtierenden Politiker und die Ergebnisse der jüngsten Wahlen in Tschechien sagt sie: Das Land sollte jemand regieren, der einen mehrere Jahrhunderte alten Stammbaum nachweisen kann. Denn darauf komme es an – auf Bildung und Abstammung. „Heute lügen alle, niemand glaubt irgendwem“, sagt sie. Deshalb sei es ihr so wichtig, dass Menschen wie Lumbe nicht in Vergessenheit geraten.

Als sie die Patenschaft für das Grab übernahm, ging es ihr nicht so sehr um den Sandstein auf dem Friedhof, sondern darum, dass auch Lumbes Gedanken und die Erinnerung an ihn bewahrt werden – ein Anliegen, mit dem sie es ihren Worten zufolge in der tschechischen Gesellschaft noch immer schwer hat. „Seit 1948 ist allen Regierungen daran gelegen, dass über Geschichten wie die der Familie von Thun-Hohenstein nicht gesprochen wird“, findet Weinberg. Stimmt nicht ganz, könnte man einwenden, schließlich erzählen Fremdenführer auf den zahlreichen Burgen und Schlössern hierzulande Touristen gerne von bekannten Adelsfamilien. Andererseits: Als vor drei Jahren Karel Schwarzenberg, Familienoberhaupt des historischen Fürstenhauses, zum Präsident gewählt werden wollte, entschied sich das Volk doch lieber für Miloš Zeman, der mit allen Bandagen gegen den „Fürsten“ gekämpft hatte.

Streng nach Vorschrift
Gegen die Lumbe-Villa als Residenz hatte der siegreiche Kandidat dann aber nichts einzuwenden. Weil er im Grünen wohnen wolle und seine Frau sich einen Hund wünsche, werde er aus seiner Wohnung in der Plattenbausiedlung in das Haus mit dem großem Garten ziehen, schrieben tschechische Medien damals. Zur Präsidenten­residenz hatte die Villa im 2005 das damalige Staatsoberhaupt Václav Klaus umbauen lassen. Der Tschechoslowakische Staat soll sie 1925 von Lumbes Erben erworben haben – über die Umstände weiß Weinberg nichts.

Die städtische Friedhofsverwaltung glaub­te vor ein paar Jahren, dass die Kanzlei des Präsidenten ein Interesse daran haben könnte, an Lumbe zu erinnern. Sie fragte 2013 – bevor Weinberg die Patenschaft übernahm – bei der Kanzlei nach, ob sie sich um das Grab des Politikers kümmern möchte, in dessen Villa der Präsident nun lebt. Die Antwort liest sich bürokratisch: „Laut geltenden Haushaltsregeln kann die Kanzlei des Präsidenten der Republik Finanzmittel nur für ihre Tätigkeiten ausgeben, die im Gesetz Nummer 114/93 vorgesehen sind. Aus diesem Grund kann sich die Kanzlei des Präsidenten der Republik nicht an dem Projekt beteiligen.“ Mit anderen Worten: Man hielt sich an die Vorschriften. Das Interesse an Lumbe war offenbar nicht groß genug, um nach einem Weg zu suchen, wie man an ihn erinnern könnte.

Weinberg hat noch eine andere Hoffnung. Sie würde gerne die Enkel der Lumbes finden. Von der Tochter weiß sie noch, dass sie Ottomar von Starck heiratete, dann verliert sich die Spur wieder. Aber wer weiß, vielleicht taucht ja irgendwo ein neuer Hinweis auf.