Kalenderblatt: 25. Februar
Vor 50 Jahren: In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1968 setzt sich der „Samengeneral” Jan Šejna in den Westen ab
23. 2. 2018 - Text: Josef Füllenbach
Mit dem Sturz von Parteichef Antonín Novotný Anfang Januar 1968 sank auch der Stern des Armeegenerals Jan Šejna, der seit Mitte der fünfziger Jahre als Novotnýs Günstling eine steile Karriere hingelegt hatte. Šejna war ein Militär mit Zugang zu den geheimsten Dokumenten und Plänen der tschechoslowakischen Armee einschließlich der Mobilisierungspläne des Warschauer Paktes. Als General, Parteimitglied seit 1946, Abgeordneter der KSČ und Kandidat des Zentralkomitees der Partei stand er mit den höchsten Entscheidungsträgern in Armee und Politik in engem Kontakt. Vor allem aber umgab ihn dank seiner Freundschaft mit Novotnýs Sohn und der fördernden und schützenden Hand dessen Vaters die Aura einer grauen Eminenz mit dem Ruf der Unantastbarkeit: Man war gut beraten, Šejna nicht in die Quere zu kommen, den Novotný als den einzigen lobte, der ihm ein zutreffendes Bild der Armee vermittelte. Und das heißt übersetzt: der ihm Informationen über alle möglichen hochrangigen Personen zutrug.
Neben seinen öffentlichen Funktionen pflegte Šejna aber auch einen äußerst aufwendigen Lebensstil: Er war ein Lebemann und Liebhaber der Frauen, dem sein Generalsgehalt bei Weitem nicht reichte, um sich und sein schillerndes Umfeld zufriedenzustellen. Sein Finanzbedarf brachte ihn schließlich auf die abschüssige Bahn. Seinen kargen Sold wusste er auf vielfältige Weise aufzubessern. Den größten Zuverdienst verschafften ihm der illegale Verkauf von Kleesamen an landwirtschaftliche Genossenschaften (daher sein Spitzname „Samengeneral“) und die Verschiebung von Autos. Der Bericht einer Untersuchungskommission, die nach Šejnas Verschwinden vor allem den Umfang des möglichen Geheimnisverrats zu ermitteln hatte, listet penibel alle Gewinne auf, die der Soldat auf seinen finsteren Abwegen einstrich. Man kam auf die damals ungeheuerliche Summe von über einer halben Million Kronen, mehr als das Zwanzigfache des damaligen durchschnittlichen Jahreseinkommens. Neben den Betrügereien hatte er sich auch dadurch strafbar gemacht, dass er von Soldaten unbezahlte Arbeiten an seinem Wochenendhaus verlangte.
Zwar bemerkten die Leute in seinem Umfeld so manche Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten, doch solange Novotný fest im Sattel saß, brauchte sich Šejna nicht zu sorgen. Nach Novotnýs Sturz als Parteichef wurde auch Šejnas Position wackelig. Novotný behielt wohl noch seinen Präsidentenposten bis Ende März, doch zeigt das Beispiel, wie wenig diese Funktion damals im Vergleich zum Parteivorsitz galt – als Präsident konnte er seinen Schützling nicht mehr vor Nachstellungen bewahren. Und die kamen im Februar 1968 endlich in Gang. Als der Antrag auf Aufhebung seiner Immunität im Präsidium der Nationalversammlung eintraf, musste ihn jemand gewarnt haben. Einen Wagen und einen diplomatischen Pass für seinen Sohn hatte er schon vorbereitet, angeblich auch tausende Fotografien geheimster Dokumente, jenseits des Eisernen Vorhangs eine damals begehrte Währung. Er tat überall kund, dass er in den Böhmerwald fahre, tatsächlich aber verschwand er am 25. Februar über Ungarn und Jugoslawien zunächst nach Italien, wo er sich in die Obhut der amerikanischen Botschaft begab, die ihn auf sicherem Wege in die USA brachten.
Dort verhalfen ihm seine hocherfreuten Gastgeber zu einem neuen Haus, er wurde zum Ostblock-Experten und schlüpfte in die neue Rolle eines Antikommunisten. Aus den einige Jahre nach der Wende offengelegten Dossiers des tschechoslowakischen Geheimdienstes geht hervor, dass dieser, soweit das in Amerika möglich war, Šejna beobachtete. Auch hat er sich einen genauen Überblick verschafft, was Šejna eigentlich im Einzelnen wissen und verraten konnte. Das war aufgrund seiner früheren Stellung sicher nicht wenig, doch neigte er auch in den USA dazu, über seine Verhältnisse zu leben, was jetzt hieß: bei seinem Verrat Fakten mit Fiktion anzureichern, um interessanter und wertvoller zu erscheinen, als er wirklich war. Aber mit der Zeit verloren seine Informationen an Aktualität und damit an Wert. Es hätte endgültig Ruhe in diesen Fall einkehren können.
Nach der Wende hatte Šejna jedoch noch einen sonderbaren Auftritt: Er gab 1992 vor dem Senatsausschuss der USA für Kriegsgefangene und Vermisste detailliert Auskunft über die Beteiligung tschechoslowakischer Militärärzte bei medizinischen Versuchen an amerikanischen Soldaten, die während der Kriege in Korea und Vietnam in Gefangenschaft geraten waren. Diese Zeugnisse waren ebenso reich an farbigen Schilderungen und konkreten Einzelheiten, wie sie faktengestützter Beweise entbehrten und Widersprüche enthielten. Bis heute konnte nicht geklärt werden, was davon zutraf und was Šejnas Neigung zum wichtigtuerischen Fabulieren entsprang. Er starb am 23. August 1997 im Alter von 70 Jahren in New York und vermochte nicht mehr auf die ihm von den tschechischen Ermittlungsbehörden zugesandten Fragen zu antworten.
So bleibt Šejna eine höchst fragwürdige Figur, der Prototyp eines in der kommunistischen Partei groß gewordenen Karrieristen und Intriganten, der, sich der Verantwortung für seine Straftaten entziehend, quasi über Nacht den antikommunistischen Mantel überstreifte und weiterhin keine Skrupel kannte, zur Befriedigung seiner Ansprüche im Trüben zu fischen. Ohne es zu wollen, bewirkte Šejna mit seiner Affäre auch etwas Gutes: Seine Flucht blieb nicht geheim, sie diente in den aufkeimenden politischen Diskussionen als Beispiel für die Amoralität der Verhältnisse unter Novotný und als Beweis für die wirtschaftlichen Probleme im Lande und die allgegenwärtige Korruption.
Der neuen Dubček-Führung blieb keine andere Wahl, als sich von den kriminellen Machenschaften dadurch zu distanzieren, dass sie die öffentliche Erörterung des Falles und dessen systemischer Ursachen zuließ. Auf diese Weise beschleunigte die Affäre die Beseitigung der Zensur durch den Parteibeschluss vom 4. März und verstärkte den Überdruss am alten Regime. Ebenfalls Anfang März geschah Unerhörtes: Auch hohe Offiziere wagten sich mit der Forderung hervor, Novotný müsse nun ebenfalls als Präsident zurücktreten. Zwei Wochen hielt er dem Druck noch stand, am 22. März war es so weit: Novotný musste nach gut zehn Amtsjahren die Prager Burg verlassen. Der Weg war frei für Ludvík Svoboda. Aber das ist eine neue Geschichte.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ