Kampf um das Vereinte Europa
In Prag sind seit der Wende hunderte sozialistische Skulpturen verschwunden. Junge Leute wollen diesem Trend entgegentreten. Ihr Kampf um einen Brunnen lässt tief in den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit blicken
8. 10. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba
Über dem Vereinten Europa braut sich ein Unwetter zusammen. „Vereintes Europa“, das ist der Name eines Springbrunnens im dritten Stadtbezirk, auf dem Platz „Jiřího z Poděbrad“. Er stammt aus einer Zeit, an die sich die Tschechen nur ungern erinnern: aus den achtziger Jahren. Der Brunnen ist aus Granit und sieht aus wie ein grauer Schildkrötenpanzer, den jemand in der Mitte auseinandergesägt und dann wild drauf losgeschnitzt hat. Er wird dem Stil des Brutalismus zugeordnet. Und er soll verschwinden.
Matěj Stropnický, Mitglied der Grünen und Vizebürgermeister im dritten Stadtbezirk, steht auf dem Schildkrötenpanzer. Der Wind zerzaust seine schwarze Mähne, vor seinen stoppeligen Oberlippenbart hält er ein Megafon. „Jemand möchte unser Vereintes Europa zerstören“, scheppert es über den weitläufigen Platz. Der Ortsverband seiner Partei und eine Bürgerinitiative kämpfen für den Erhalt des Brunnens. Heute soll ihn eine Menschenkette schützen.
In der kommunistischen Tschechoslowakei sorgte ein Gesetz dafür, dass bis zu vier Prozent der Ausgaben für staatliche Bauprojekte der künstlerischen Ausgestaltung reserviert waren. Da sich nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im Jahr 1968 viele Künstler politischen Themen verweigerten, entstand eine einzigartige Mischung aus sozialistischem Realismus und abstrakter Kunst.
Aliens und Reiher
Vor Plattenbauten kauern traurige Mädchenakte, sprießen surreale Steinskulpturen, die an menschenfressende Pflanzen aus den apokalyptischen Romanen von John Wyndham erinnern. Aus riesigen Eiern pellen sich abstrakte Formen, Wasservögel schwärmen aus. Der Künstler Pavel Karous kartiert mit seinem Projekt „Aliens und Reiher“ („Vetřelci a volavky“) die Kunstwerke, die während der Normalisierung, also nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, entstanden sind.
1.800 Plastiken hat er allein in der Hauptstadt gezählt, mindestens 450 davon sind seit der Wende verschwunden. Karous hat eine Taxonomie für die Skulpturen entwickelt, er nennt sie „Schlüsselkinder“, „Triffids“ oder eben „Aliens“ und „Reiher“. Der Brunnen „Vereintes Europa“ passt in keine seiner Kategorien.
Karous trägt ein graues Tweed-Sakko, darüber einen rot-weiß karierten Kragen. In den grau melierten Haaren kleben Farbreste, gelb und rot. Genauso wie an seinen Fingern, mit denen er die Form des Brunnens nachzeichnet. „Der Künstler hat Europa geteilt, so wie es damals nun einmal war“, sagt er. Die ganze Skulptur aber bildet eine Einheit, das Wasser, das in vier Strahlen aus der Mitte der Plastik sprudelt, sammelt sich in einem Becken. Sammelte. Heute ist das Becken, bis auf eine grüne Pfütze, leer und moosig.
Die Schildkröte entstand beim Bau der U-Bahn-Station „Jiřího z Poděbrad“. Als Thema gaben die Bauherren den ersten gewählten König Böhmens und Namenspatron von Platz und U-Bahnhof, Georg von Podiebrad, vor – und dessen Vision von einer „Allgemeinen Friedensorganisation“ aus dem Jahre 1462, einer Art Föderation der europäischen Königreiche. Der Brunnen wurde 1981 eingeweiht, zusammen mit einem fünf Meter hohen, brutalistischen Lüftungsturm. Er bricht unvermittelt aus dem Platz hervor und erinnert mit seinen Metallstreben an einen Ritterhelm. Beides, Schildkröte und Helm, sollen laut einem Plan zur „Revitalisierung“ des Platzes Anfang kommenden Jahres entfernt werden. Prag möchte ihn zu seiner nächsten Unesco-Stätte machen.
Petition für den Brunnen
In der Sonnenbrille von Vizebürgermeister Stropnický – Typ Pilotenbrille mit hellblauem Rand – spiegelt sich die Dominante des Platzes wider: die monumentale Herz-Jesu-Kirche. Mit der riesigen verglasten Turmuhr und dem weißen Dreiecksgiebel wirkt sie wie eine Mischung aus Bahnhof und antikem Tempel. Sie stammt aus Zeiten, an die sich die Tschechen gerne erinnern. Entworfen hat sie der Slowene Jože Plečnik, Hofarchitekt des „Väterchens der Nation“, des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš G. Masaryk. Stropnickýs Koalitionspartnerin, Bürgermeisterin Vladislava Hujová (TOP 09) meint, der Platz müsse von störenden Elementen gesäubert werden. „Sozialistischer Brutalismus“, das entspräche nicht der Vision, die Plečnik für den Platz gehabt habe.
„Das Argument, der Brunnen sei sozialistisch, ist an den Haaren herbeigezogen. Es sind 25 Jahre seit der Samtenen Revolution vergangen, warum können wir die Dinge verdammt noch mal nicht mit ein bisschen Abstand betrachten!“, regt sich Karous auf. Gegen seinen Willen sei er vom Künstler zum Kunsthistoriker geworden, sonst würde sich im Land gar niemand für Skulpturen aus der Zeit des Sozialismus interessieren. Das stimmt nicht ganz, denn unlängst widmete das Museum für zeitgenössische Kunst DOX den „Aliens und Reihern“ eine Ausstellung.
Der Umbau des Platzes und der Abbau der Europa-Schildkröte wurden bereits 2002 im Rathaus abgesegnet.
Kostenpunkt etwa 3,2 Millionen Euro. Dann aber schwemmte das Jahrhunderthochwasser die städtischen Kassen leer. Als Stropnický ins Rathaus kam, ließ er das Bauprojekt überprüfen, strich erst eine überteuerte Tiefgarage, die unter dem Platz gebaut werden sollte und machte sich dann für den Brunnen stark. „Eine Stadt entsteht in Etappen, warum sollten wir manche Bauten und Kunstwerke ausradieren, nur weil sie aus der Zeit vor 1989 stammen?“, sagt er. Es entstand eine Petition, und das Amt für Denkmalschutz empfiehlt, den Brunnen zu bewahren. Die Bürgermeisterin möchte ihn nun „umsiedeln“. Sie schlägt das neu entstehende Viertel um den Güterbahnhof „Nákladové nádraží Žižkov“ als Standort vor.
Happening und Beethoven
Stropnický vergleicht das, was Hujová mit dem „Jiřího z Poděbrad“-Platz vorhat, mit den Praktiken der kommunistischen Stadtplaner, die erst alles abrissen und dann ihre Vorstellung von der idealen Stadt betonierten. Der 31-Jährige ist eine umstrittene Figur bei den tschechischen Grünen. Manche seiner Parteikollegen nennen ihn einen „roten Lump“. Dabei stammt er aus einer Diplomatenfamilie, sein Vater Martin ist Verteidigungsminister. Eine grüne Kollegin im dritten Bezirk beklagt, er stelle seine eigenen Visionen höher als demokratische Prinzipien. Mit dem Verschwinden des Lüftungsturms hat sich Stropnický abgefunden. „Aber den Brunnen geben wir nicht auf!“
Für sein Happening am Brunnen „Vereintes Europa“ konnte Stropnický auch die Brüsseler Grünen-Abgeordnete Ska Keller nach Prag locken. Europa schützen die Grünen notfalls mit dem eigenen Leib – das wollen sie heute demonstrieren. Rund um den Brunnen bilden sie eine Menschenkette. Beethovens Neunte ertönt, Keller lächelt.
Marek Procházka hat derweil andere Sorgen. Seine kleine Tochter ist unter der Menschenkette hindurchgeschlüpft und krallt sich am nassen Granitblock fest. Procházka – kurze rote Haare und Jogginghose – packt seine Tochter an der Kapuze. Sie sind auf dem Weg zum Gemüsemarkt auf der anderen Seite des Platzes. Den Springbrunnen findet er hässlich, typisch kommunistisch. „Diese graue Fläche drum herum, von den Laufwegen ist der Brunnen abgeschnitten, das ist nicht für die Menschen gemacht“, sagt er. Abreißen würde er das „Vereinte Europa“ aber nicht, seine Kinder mögen das Wasser. „Man könnte das ein wenig umbauen und sich damit arrangieren“, sagt Procházka. Bis derartiger Pragmatismus bei der Diskussion um das Erbe der kommunistischen Vergangenheit in der tschechischen Gesellschaft ankommt, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen. Erinnerungen an das totalitäre System und daran, wie man sich selbst in ihm eingerichtet hat, würden viele gerne ausblenden oder – wie im Fall „Vereintes Europa“ – abreißen.
Als die Europahymne abklingt, geht der Starkregen auf das „Vereinte Europa“ nieder. Zwei Herren, die das ganze Happening über aufgeregt gestikulierten, stürmen auf Stropnický zu. Sie bezichtigen ihn „totalitärer Methoden“, weil er ihnen in ein Sozialprojekt hineinredet. Ska Keller rennt zum nächsten Termin. Und Procházkas Tochter ruft aufgeregt nach ihrem Papa. Sie hat den Brunnen erklommen.
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