Kindheit in Mähren
Zum Tod von Peter Härtling: Einen Großteil seiner Kindheit verbrachte der Schriftsteller in Olmütz und Brünn. Ein Gespräch über die Vertreibung und die deutsch-tschechischen Beziehungen
10. 7. 2017 - Text: Wolfgang Jung, Foto: Phil Ortenau/CC BY-SA 3.0
Erstveröffentlichung: Mai 2002. Interview gekürzt
Herr Härtling, für Sie scheint Ihre tschechische Kindheit eher ein kultureller Steinbruch als ein politisches Minenfeld zu sein.
Meine mährische Vergangenheit ist zum einen eine Kinder-Erinnerung, die ungewöhnlich deutlich ist, und zum anderen eine Ver-Gegenwärtigung, die einmal ganz unpolitisch war. Als ich erstmals wieder 1993 in Olmütz war, holte ich etwas zurück – mir wurde klar, dass da eine unheimliche, aber reale Schichtung ist. Ein untröstliches Stück Europa hat hier stattgefunden. Meine tschechischen Verwandten leben zwar nicht mehr, aber ich fand alles wieder. Die Wohnung, in der wir lebten, habe ich aber nicht betreten. Ich wollte es nicht. Da hätte ich etwas begonnen, was für meine Begriffe falsch gewesen wäre: Verluste zurückzuholen. Was verloren ist, sollte man verloren geben.
Es gibt Vertriebene, die haben eine andere Einstellung.
Ich habe die Rückgabe-Diskussion immer für absolut unsinnig gehalten. Vor allem kann man Heimat nicht vererben. Das ist für mich etwas Schwachsinniges. Heimat hat man oder hat man nicht. Direkt nach dem Krieg war ich bei einem der ersten Treffen der Brünner Deutschen in Schwäbisch-Gmünd. Da bin ich, im Alter von vielleicht 15 Jahren, unter Geschrei fortgelaufen. Dass Kinder in eine Tracht gezwungen werden, die sie nie getragen haben, und dass der Anspruch auf Besitz erhoben wird, ohne die eigene Schuld zu erwägen, fand ich schon sehr fragwürdig. Heute sieht das für mich anders aus. Ich kann verstehen, wenn alte Menschen wie ich gelegentlich Anfälle von Heimweh bekommen nach einer Landschaft, einer Stadt. Aber ich kann nicht verstehen, wenn sie diese Heimat beanspruchen. Sie haben woanders Wurzeln geschlagen. Wenn sie ihren Kindern und Enkeln dies als Pflicht anvertrauen, halte ich das für einen ganz üblen politischen Fehler.
Und wie beurteilen Sie die Vertreibung?
Die Vertreibung war Unrecht und ist es geblieben. All dem ging allerdings etwas voraus, was merkwürdigerweise kaum behandelt wird. Und wenn doch, dann von Tschechen oft sehr polemisch, nämlich die allmählich entgleisende Minderheitenpolitik von Präsident Tomáš G. Masaryk und später von Edvard Beneš. Natürlich gab es die deutschen Sozialdemokraten im Prager Parlament, aber keiner fürchtete nach 1933 die Ideologisierung der Sudetendeutschen. Keiner sah, ohne sich zu wehren, die Macht, die Konrad Henlein gewann. Das Sudetenland ist ja früher ans Reich gewandert, und die „kleine Republik“ blieb zurück. Diese „kleine Republik“, die beträchtliche Restbestände an Deutschen in den großen Städten – Prag, Brünn, Olmütz – zu bewahren hatte, hätte wenigstens dies nach 1945 retten können. Es hätte Europa genützt – wenn auch verspätet -, auch wenn vermutlich viele Deutsche weggegangen wären. Aber es hätte das Gedächtnis an eine europäische Möglichkeit bewahrt werden können. Das ist vertan worden.
Dass Deutsche und Tschechen nach 1945 in Eintracht in einem Staat hätten leben können, ist schwer vorstellbar.
Das Miteinander verlief nie ohne Spannung. So war es schon im Habsburger Vielsprachenreich, das im Grunde ein überwürzter Riesentopf war. Auf die Dauer war es nicht möglich, aber es war beinahe eine Vision, eine Utopie, dass Juden, Tschechen, Deutsche, Slowaken, Ungarn halbwegs miteinander lebten und Kulturen tauschten. Wenn Sie heute nach Olmütz kommen, nach Brünn, da haben die Parlers und Dientzenhofers gebaut und das ist selbstverständlich hineingewachsen. Warum es hier noch soviele Schwierigkeiten gibt, begreife ich von beiden Seiten nicht. Den Besitzanspruch der Deutschen weise ich auch für mich zurück. Aber die oft auch mich kränkenden Unschuldserklärungen von Tschechen sind genauso albern. Mitteleuropa hat eine elementare Chance in diesem neuwachsenden Europa, das im Grunde nichts anderes ist als ein großer bürokratischer Wahn. Mitteleuropa könnte eine Wirklichkeit schaffen, und darauf baue ich ein bisschen.
Seit Jahrzehnten erheben sudetendeutsche Repräsentanten Vorwürfe gegen Prag, und von dort kommt ein ähnlich klingendes Echo. Was empfinden Sie dabei?
Ich habe Verständnis für die Reflexe von beiden Seiten. Ich muss aber sagen, für die sudetendeutsche Seite weniger. Sie hat – anders als die tschechische Seite – fünfzig Jahre Zeit gehabt, intern zu diskutieren. Und dass man da geradezu störrisch bei manchen Maximen bleibt, die 1946 oder 1947 aus der großen Verletzung heraus noch verständlich waren – da kann ich nicht mehr mit. Bei den Tschechen ist die Entwicklung eine andere. Erst seit Havels zögernden Sätzen der Versöhnung – sie waren zögernd, aber sie gingen mir nahe – hat man in Tschechien darüber gesprochen. Man hat immer wieder unterbunden und sich selbst beschwindelt.
Könnte eine „humanitäre Geste“ für Vertriebene, über die Berlin und Prag in aller Stille beraten, das Eis brechen helfen?
Entschädigungen in der dritten Generation halte ich für sinnlos. Wir haben alle den Lastenausgleich bekommen, das vergisst man immer. Es gibt aber sehr vieles, was sozusagen Deutschen und Tschechen „gehört“ – an Architektur, Bildern, Erinnerung. Wenn hier die Deutschen etwas großzügiger wären, hätte ich nichts dagegen. Die Tschechen sollten aber dann auch offen sein. Solche Schritte, die ja nichts anderes zeigen als: Es ist unsere gemeinsame Geschichte mit all diesem Entsetzlichen, was uns auseinandergetrieben hat. Aber es ist etwas geblieben, und warum sollen wir das jetzt auch noch aufgeben, dem Vergessen anheimgeben? Warum sollen wir das nicht aufnehmen in unsere Erinnerung? (…)
Sie haben gesagt, dass sich Ihr Verhältnis zur „verlorenen Heimat“ geändert hat. Wie?
Das ist ganz verrückt. Seit meinem ersten Besuch nach fünfzig Jahren in Brünn gibt es für mich eigentlich zwei Lebenslandschaften: zum einen die Schwäbische Alb, zum anderen Mähren. Das ist wahrscheinlich auch die starke Bindung, die ich indirekt durch meinen Vater und meine Tanten erfahren habe, an dieses habsburgische Mähren. Als ich zum ersten Mal wieder die wunderbar leuchtenden gelben Fassaden im Bischofsviertel von Brünn sah, habe ich gewusst: Das ist meine Farbe.
Wollen Sie nun engeren Kontakt zu Tschechien halten als früher?
Es ist etwas Eigentümliches passiert. Bei meinem ersten Besuch wurde ich kontaktiert von einer jungen Frau und Lehrerin, die ihre Magisterarbeit über mein Buch „Nachgetragene Liebe“ geschrieben hat. Sie lud uns ein in eine Schule, von der sie sagte, die wollten sie nach mir benennen. Worauf ich sagte: Das ist doch Schwachsinn, in Deutschland gibt es Schulen, die nach mir heißen, aber das hat mit Kinderbüchern zu tun. Aber wir sind da hingefahren – ich weiß gar nicht mehr, wo das war – und es war ganz rührend.
Es stellte sich aber etwas heraus: Die wollten die Schule eigentlich nach meinem Vater benennen, der dort sehr verehrt wird, weil – was ich ihm nie zugetraut hätte – er Tschechen und Deutsche zivilrechtlich vertreten hat bis Ende 1942. Dann durfte er nicht mehr. Da habe ich gesagt, na gut, dann machen Sie das doch.
Doch Joachim Bloss, der damalige Leiter des Prager Goethe-Instituts, kam mit einer wunderbaren Idee: „Das geht aber nicht“, hat er gesagt, „Sie können die Schule nicht nach Peter oder Rudolf Härtling benennen, wenn Sie nicht die Eltern fragen und die Schüler. Sie können das doch nicht wie früher von oben runter handhaben.“ Und damit war das erledigt. Er hat erst gar nicht gefragt. Und Bloss war wirklich mein Retter. Andererseits schade. Aber vielleicht gibts ja mal später eine Härtling-Schule in der Tschechischen Republik.
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