„Klaus ist Tschechiens geschicktester Politiker“

„Klaus ist Tschechiens geschicktester Politiker“

Der Direktor der New York University in Prag Jiří Pehe über gierige Individualisten, die Privatisierung der Politik und selbstsüchtige Präsidenten

21. 8. 2013 - Interview: Klaudia Hanisch, Titelbild: Jindřich Nosek, CC BY-SA 4.0

In der Gesprächsreihe „20 Jahre Tschechien – Eine Inventur“ lässt die Prager Zeitung herausragende Meinungsführer Bilanz ziehen. Wo steht Tschechien 20 Jahre nach der Staatsgründung? Im achten und zugleich letzten Teil der Reihe sprach PZ-Mitarbeiterin Klaudia Hanisch mit Jiří Pehe, dem einstigen politischen Berater von Václav Havel.

Herr Pehe, der britische Historiker Tony Judt hat sein letztes Buch „Thinking the Twentieth Century“ mit folgendem Satz eingeleitet: Irgendetwas ist grundfalsch an der Art, wie wir heutzutage leben. Lässt sich diese Aussage auch auf Tschechien münzen?

Mit Tony Judt, den ich gut kannte, haben ich mich darüber oft ausgetauscht. Auch in Tschechien kann man die von Judt beschriebenen Entwicklungen beobachten. Ende der achtziger Jahre setzte eine extreme Individualisierung ein. Die damit einhergehende Mentalität könnte man mit den Worten von Gordon Gekko, der Figur aus dem Film „Wall Street“, zusammenfassen: Gier ist in Ordnung, Gier ist gesund. Judt schrieb auch, dass sich die traditionellen Strukturen wie Parteien und Gewerkschaften in der Krise befinden und nicht mehr im Stande sind, die negativen Folgen der Individualisierung zu dämpfen. Zudem stehen die traditionellen Nationalstaaten zunehmend unter dem Druck globaler und äußerst flexibler Marktakteure.

Bringen diese Entwicklungen spezifische Auswirkungen für die Staaten in Ostmitteleuropa mit sich?

Die Politik in Osteuropa war schon damals anfälliger dafür, von wirtschaftlichen Interessen gelenkt zu werden. Der wirtschaftliche Erfolg der Staaten war von Direktinvestitionen multinationaler Unternehmen abhängig. Die Zivilgesellschaft war noch in den Kinderschuhen und die mitgliedsarmen politischen Parteien haben nicht nur den Prozess der Privatisierung der Politik vorangetragen, sie haben sich quasi selbst privatisiert und wurden zu Handlangern von einflussreichen Wirtschaftsbossen.

Inwieweit ist die Größe der tschechischen Parteien dafür verantwortlich?

Stellen Sie sich eine Partei mit 20.000 Mitgliedern vor, die die Wahlen gewinnt und Regierungsverantwortung trägt. Zum einen hat diese Partei Schwierigkeiten, alle Posten mit qualifiziertem Personal zu besetzen. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass es in dieser Partei zu den angesprochenen Privatisierungsprozessen kommt. In Tschechien können Unternehmer relativ einfach lokale Parteistrukturen manipulieren. Etwa indem sie hundert Leute bezahlen, sie mit speziellen Bussen zu den Vorsitzwahlen fahren, sie vor Ort als Mitglieder registrieren und abstimmen lassen. Das reicht, um einen Ortsverband innerhalb von kurzer Zeit zu privatisieren.

Woran liegt es, dass die politischen Parteien keine starke Parteibasis aufgebaut haben?

An zwei Gründen: Es herrscht ein tiefes Misstrauen gegenüber politischen Parteien in der Bevölkerung. Wenn man heute in Tschechien ein angesehener Bürger sein möchte, hält man sich von Parteien fern. Als Parteimitglied kommt man automatisch unter Verdacht, korrupt und unaufrichtig zu sein. Andererseits agieren die privatisierten Parteien weniger als Repräsentanten der Wähler, sondern wie Unternehmen, die mit politischem Einfluss handeln. Sie haben kein Interesse daran, Parteien mit einer breiten Basis zu werden. Bei uns gibt es keine Kampagnen zur Rekrutierung neuer Mitglieder. Die Älteren schüren Ängste, dass eine größere Zahl von jungen Neumitgliedern die Machtbalance verschieben könnte. Schließlich ist eine Partei mit 20.000 Mitgliedern für die Parteispitze besser zu kontrollieren.

Welche Rolle spielen sozioökonomische Faktoren für das Wahlverhalten in Tschechien?

In den neunziger Jahren deklarierten sich viele als politisch rechts – in Opposition zum kommunistischen Regime. Das hat zum Teil immer noch Bestand, aber mit dem Kapitalismus kam es auch zu einer sozialen Ausdifferenzierung: Heute gibt es die Reichen und den Rest. Diejenigen, die sozial abgehängt wurden, fangen an, ihre Hoffnungen mit der Linken zu verbinden – von den Kommunisten bis zu den Sozialdemokraten.

Können Sie den Zeitpunkt bestimmen, ab dem das sichtbar wurde?

Dieser Prozess dauert schon etwa zehn Jahre, aber wirklich sichtbar wurde die Konfliktlinie erst seit 2008, seit der Wirtschaftskrise. Bis 2008 gab es in allen postkommunistischen Staaten der Region einen rasanten Wirtschaftsaufschwung. Bis dahin wurden viele pathologische Entwicklungen durch die volkwirtschaftlichen Erfolge übertüncht. Korruption beispielsweise ist schon seit langem stark ausgeprägt, aber das Problem wurde weniger bewusst wahrgenommen. Erst durch die Krise und die aufkommenden Abstiegsängste verschärfte sich der Blick. Das wiederum führte zu einer stärkeren Verbindung der politischen Identifikation mit der eigenen sozialen Zugehörigkeit.

Warum bleibt dann die tschechische Zivilgesellschaft verhältnismäßig unterentwickelt?

Die Verhaltensmuster, die sich zu Zeiten des Kommunismus herausgebildet haben, sind immer noch tief verwurzelt. Auch heute noch herrscht eine Abneigung gegenüber politischem Engagement. Das scheint in Tschechien besonders ausgeprägt zu sein. Ende der achtziger Jahre war ich bei Radio Free Europe in München tätig. Im Tschechoslowakischen Archiv des Senders fanden alle Samisdat-Veröffentlichungen in einem langen Regal Platz. Das polnische Archiv war ein riesiger Raum mit Tausenden von Zeitschriften, Büchern, Zeitungen, alles oppositionelle Veröffentlichungen. In Polen war die Bereitschaft, sich zu organisieren, schon damals größer.

Welche Rolle spielte Václav Klaus während Tschechiens Systemtransformation?

In den neunziger Jahren stilisierte er sich als der große Retter in der Not, der als Einziger weiß, wie man die Volkswirtschaft reformiert und die Privatisierung durchführt. Dieser Mythos wirkt bis heute nach – selbst bei seinen Kritikern. Dabei berücksichtigen sie nicht, dass Polen, Ungarn und die baltischen Staaten vor ähnlichen Herausforderungen standen und die Aufgaben zum Teil besser gelöst haben. Als Verdienst kann man ihm jedoch anrechnen, dass er die Formierung des heutigen Parteienspektrums initiierte. Er trieb die Auflösung des Bürgerforums voran, weshalb der Prozess der Parteienbildung bei uns schneller abgeschlossen war als in Polen oder in Ungarn, wo die ehemaligen Oppositionsbewegungen Solidarność und das Ungarische Demokratische Forum viel länger als Parteien figurierten. Sein zweiter Verdienst war die Auflösung der Tschechoslowakei, ohne dass dabei die Emotionen hochkochten. Klaus’ Attribut war immer seine enorme Energie. Man muss sich ehrlich eingestehen, dass Klaus Tschechiens geschicktester Politiker ist.

Was erwarten Sie von Miloš Zeman?

Als Präsident wird er weltoffener auftreten (Das Interview wurde Mitte März geführt, Anmerkung der Redaktion). Innenpolitisch wird er interventionistisch vorgehen und anders als Havel und Klaus die Möglichkeiten nutzen, die ihm die Verfassung gibt. Auf der symbolischen Ebene könnte seine Präsidentschaft zur Wiederbelebung der Kultur des Postkommunismus führen. Auf das Parteienspektrum könnte seine Präsidentschaft positive Auswirkungen haben, da die Parteien gezwungen sein werden, zu reagieren und so aus ihrer Lethargie erwachen könnten.

Hat Zeman einen inneren Kompass, eine politische Mission?

Was Klaus und Zeman immer leitete, ist ihr Ego. Beide sind narzisstische Persönlichkeiten.

Wo sehen Sie Tschechien in zehn Jahren?

Im Jahr 1967 veröffentlichte der berühmteste Futurologe Herman Kahn ein Buch mit dem Titel „The Year 2000“. Aus der heutigen Perspektive ist das Buch sehr amüsant, denn bei allem was er prognostizierte, lag er falsch. Er konnte nicht vorhersagen, wie sehr sich die Mentalität der Menschen verändern wird. Was mir jedoch Hoffnung für die Zukunft gibt, ist der Generationswechsel. Aufgrund meiner Erfahrungen als Professor kann ich sagen, dass die heutige Jugend an den Universitäten viel mutiger, weltgewandter und kritischer ist als noch in den neunziger Jahren. Als Dozent muss man viel stärker darauf achtgeben, was man vorträgt. Denn die Studenten haben keine Angst mehr, den Professor mit ihren eigenen Standpunkten zu konfrontieren (lacht).

ZUR PERSON: JIŘÍ PEHE

Jiří Pehe wurde am 26. August 1955 in Rokycany geboren. In Prag studierte er Jura und Philosophie. Nachdem ihm die USA Anfang der achtziger Jahre politisches Asyl gewährten, schloss er ein Studium der Internationalen Beziehungen an der Columbia University in New York ab. Mehrere Jahre arbeitete er in der Menschenrechtsorganisation Freedom House und als Journalist, unter anderem für die New York Times. Von 1988 bis 1994 leitete er die Abteilung für politische Analyse des Senders Radio Free Europe in München. Zwei Jahre war Pehe Chef der politischen Abteilung des Präsidenten Václav Havel. Heute ist er Direktor der New York University in Prag und einer der gefragtesten politischen Kommentatoren.