Kommentar: Holpriger Start
Die V4-Staaten suchen ihre Rolle in der Post-Brexit-Ära
29. 6. 2016 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: cer.org.uk
Die Flüchtlingskrise hatte die vier Visegrád-Länder 2015 erstmals näher zusammenrücken lassen, nachdem die Gruppe jahrelang mangels handfester gemeinsamer Interessen eher nur dahingedümpelt war. Nun hat der Ausgang des britischen Referendums die Visegrád-Gruppe offenbar erneut zu hektischer Aktivität veranlasst. Die tschechische Regierung, die in dieser Woche den Vorsitz an Polen abgibt, lud die Visegrád-Außenminister und deren Kollegen aus Berlin und Paris zu Beratungen an die Moldau. Die polnische Regierung bat die 21 Chefdiplomaten der künftigen EU-27, deren Staaten nicht zu den Gründungsmitgliedern der früheren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehören, zu einem Arbeitsessen an die Weichsel. Und die Slowakei, die in dieser Woche die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, will noch im Juli Gastgeber der EU-Außenminister sein.
Das weckt die Erwartung, dass die Visegrád-Länder zur Frage, wie es nach dem Austritt der Briten aus der Union weitergehen soll, Substanzielles anzubieten hätten. Ein erster Schuss, abgefeuert vom tschechischen Außenminister in einer Fernsehdiskussion, endete schon als Rohrkrepierer: Lubomír Zaorálek bezeichnete Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als Fehlbesetzung, eine nicht einmal verkappte Aufforderung zum Rücktritt.
Am Tag darauf war davon in den Verlautbarungen des Prager Visegrád-Treffens keine Rede mehr. Der slowakische Amtskollege meinte lediglich am Rande, es bringe jetzt nichts, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Auch Berlin gab zu verstehen, dass man sich an solchen Debatten nicht beteiligen wolle.
Es ist sicher richtig, dass ein vorzeitiger Rücktritt des Kommissionschefs die Situation zunächst nur komplizieren würde. Dennoch gibt es zu denken, dass dieser Posten einem Politiker anvertraut ist, der so vielen am Projekt der europäischen Integration zweifelnden und verzweifelnden EU-Bürgern als eine Bestätigung ihrer Vorbehalte gilt. London hatte Juncker davon abgeraten, sich in der Auseinandersetzung um den Brexit öffentlich auf der Insel zu engagieren. Das sei kontraproduktiv. Kann man jemandem seinen Mangel an Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit deutlicher zu verstehen geben? Und kann ein Kommissionspräsident, den man lieber versteckt, wenn die Wähler vom Sinn der Union überzeugt werden sollen, wirklich der richtige Mann auf diesem Platz sein? Insofern hat Zaorálek mit seinem forschen Verdikt einen richtigen Nerv getroffen, freilich unvorbereitet und daher ohne Wirkung.
Auch die polnische Regierung konnte mit ihrem Treffen der 21 Nicht-Gründungsmitglieder nur einen mäßigen Erfolg feiern: Es kamen nur neun und darunter nicht einmal alle Vertreter der Visegrád-Partner – Zaorálek zog es vor, in Prag zu bleiben. Aber vielleicht hat die bloße Einladung zu diesem Treffen ihren Zweck schon erfüllt: Sie wies Berlin demonstrativ darauf hin, dass der Sechsergruppe der Begründer der europäischen Integration keine Sonderrolle bei den Diskussionen über die künftige Union der 27 zukommen soll.
Der seltsame Vorschlag aus Bratislava schließlich, man wolle die Erfahrungen bei der Auflösung der Tschechoslowakei bei der Bewältigung des Brexit nutzen, verlor sich unbeachtet im Äther. Insgesamt war es noch kein überzeugender Start der Visegrád-Länder in die Post-Brexit-Ära. Doch geben sie immerhin ein besseres Bild ab als die Briten, die jetzt auf einmal erkennen, dass sie die Büchse der Pandora geöffnet haben und verzweifelt nach Wegen suchen, die drohenden Übel wieder einzufangen.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“