Kultur im Vorhof zur Hölle

Kultur im Vorhof zur Hölle

Vor 70 Jahren erreichte der Holocaust seinen Höhepunkt. Von Theresienstadt fuhren die letzten Transporte nach Auschwitz

23. 10. 2014 - Text: Helmut KöserText: Köser; Foto: Aurevilly

 

Der 16. Oktober ist kein Gedenktag. Vor etwas mehr als 70 Jahren, am 16. Oktober 1944, fuhr die jüdische Kulturelite Europas in den Tod. Die Fahrt ging von Theresienstadt nach Auschwitz. In dem sog. Künstlertransport befanden sich die Komponisten Hans Krása, Gideon Klein, Viktor Ullmann, Pavel Haas, der Dirigent Rafael Schächter, der Schriftsteller Peter Kien und viele andere Künstler. Ruth Elias hat als Zeitzeugin die Vernichtung miterlebt. „Ein normal denkender Mensch kann sich diesen Vernichtungsprozess gar nicht vorstellen. Ein unaufhörliches Schluchzen schüttelte meinen Körper, niemand konnte mich beruhigen. Wie viele meiner Theresienstädter Freunde werden in diesen Minuten vergast? Dieser Gedanke ließ mich nicht los. Der Beweis für die Vergasung wurde uns sehr bald geliefert, denn die Verbrennung hatte schon begonnen. Aus den Kaminen stieg Rauch auf, und der Geruch verbrannten Fleisches breitete sich über Auschwitz aus.“

Im Herbst 1944 war die Invasion der West-Alliierten am Rhein zum Stillstand gekommen. Unter Ausnutzung aller verfügbaren Reserven gelang der deutschen Wehrmacht eine Stabilisierung der Westfront. Im Osten konnte die sowjetische Sommeroffensive zurückgeschlagen und auch die Ostfront bis zur Winteroffensive 1945 stabilisiert werden, da die Rote Armee aufgrund des raschen Vormarsches unter erheblichen Nachschubproblemen litt. Zwar gelang es, das Vernichtungslager Majdanek zu befreien, insgesamt gesehen erfolgte die Befreiung der Vernichtungslager jedoch erst im Winter 1944/45 und im Frühjahr 1945. Die Hoffnung der Gefangenen in den Konzentrationslagern auf ein rasches Kriegsende erfüllte sich nicht. Die SS nutzte die militärische Lage aus, um die Vernichtungskapazitäten zu erhöhen. Pausenlos fuhren die Transporte in den Osten.

In der Vernichtungslogik und -logistik der Nationalsozialisten kam der nordböhmischen Festungsstadt Theresienstadt eine besondere Bedeutung zu. Theresienstadt war vom Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich ausersehen, Juden aus ganz Europa zu sammeln und von dort in die Vernichtungslager zu schicken. Um ihr Vernichtungswerk zu verbergen, erklärten die Nationalsozialisten Theresienstadt 1943 zum „Jüdischen Siedlungsgebiet“. Mit einer Verschönerungsaktion wurde die Stadt als „Kurort“ hergerichtet. Für Propagandazwecke wurde der Film „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ gedreht, der unter dem populären Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt wurde.

Unter der Leitung von Rafael Schächter wurde in Theresienstadt Verdis „Requiem“ mehrmals aufgeführt, so auch vor einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes unter der Leitung des Schweizers Maurice Rossel, der sich allzu leicht von der nationalsozialistischen Propagandaschau täuschen ließ. Nach jeder Aufführung wurde ein Teil der Mitwirkenden in das Vernichtungslager Auschwitz transportiert und dort ermordet. Von den 141.000 nach Theresienstadt Deportierten überlebten nur ungefähr 10% den Holocaust.

Theresienstadt war nicht nur der „Vorhof zur Hölle“, sondern auch ein Ort des geistigen Widerstandes, der als einzigartiges und wohl einmaliges Phänomen in die Geschichte eingegangen ist. Die Bedeutung der Kultur in der Grenzsituation zwischen Leben und Tod ist das eigentlich Bleibende am „Phänomen Theresienstadt“. Viktor Ullmann hat das dortige Musikleben mit dem Satz „In der Musik der Wille zum Leben“ auf den Punkt gebracht.

In den überfüllten Unterkünften starben zeitweise täglich bis zu 200 Menschen an Erschöpfung, Krankheiten und Unterernährung. Konzentriertes künstlerisches Arbeiten war unter diesen Bedingungen ein Akt äußerster Selbstdisziplin, zu dem nur diejenigen in der Lage waren, die sich mental abschotten konnten. Die erstaunliche Produktivität war darauf zurückzuführen, dass es im tristen Ghettoalltag ein fast unstillbares Bedürfnis nach Musik, Literatur und Theater gab. Diese hohe Akzeptanz und Begeisterung war für die eingesperrten Künstler ein großer Ansporn. Es entstanden bekannte Werke wie die Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása, von Viktor Ullmann die Oper „Der Kaiser von Atlantis“ sowie seine Sinfonien Nr. 1 und 2, die als Fragment erhalten geblieben sind und inzwischen rekonstruiert und wiederaufgeführt werden. Die „Studie für Streichorchester“ von Pavel Haas wurde am 13. September 1944 unter der Leitung des Dirigenten Karel Ančerl uraufgeführt und ist in dem NS-Propagandafilm kurz zu hören und zu sehen. Zu wenig beachtet werden bis heute die Zeichnungen und Grafiken der Theresienstädter Maler  Bedřich Fritta, Leo Haas, Otto Ungar und Karel Fleischmann. Um den NS-Propagandafilm als Lüge zu entlarven, schmuggelten die Künstler ihre Bilder ins Ausland. Dies hatte für die Künstler tödliche Konsequenzen, die meisten von ihnen wurden ermordet.

In Theresienstadt erklang der letzte Akkord des Zusammenlebens von Tschechen, Juden und Deutschen. Die europäische Kultur wurde um ein Erbe bereichert, das erst jetzt entdeckt und anerkannt wird. Insbesondere die Musik erreichte ein künstlerisches Niveau, das ohne die Kultursymbiose wohl kaum erreicht worden wäre. In einer enthumanisierten Welt (Ralph Giordano), die vom Diktat der Gewalt beherrscht wurde, war Theresienstadt der einzige Ort in Europa, wo sich die geistige Kraft gegen die Gewalt behaupten konnte. Zwar war es den Nationalsozialisten gelungen, die Juden nahezu vollständig zu vernichten. „Was Ihnen jedoch nicht gelang und nie gelingen konnte war die Vernichtung des Gedankens dessen, was am Menschen menschlich ist“. So formulierte es der spätere Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, Karel Ančerl, der Theresienstadt und Auschwitz überlebt hat.

Der Autor Helmut Köser lehrte als apl. Professor Politikwissenschaft und ist Gründer der Brücke/Most-Stiftung