Kulturerbe zu verkaufen

Kulturerbe zu verkaufen

Die Villa von Karel Čapek soll verkauft werden. Im Haus befindet sich ein ungeahnter Fundus an Schriften und Erinnerungsstücken des Schriftstellers

12. 6. 2013 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Nancy Waldmann

Ende Mai sorgte die Ausschreibung einer Villa im Prager Stadtteil Vinohrady für Furore. Für 49 Millionen Kronen (etwa 1,9 Millionen Euro) suchte das Haus einen neuen Hüter. Die Medien überschlugen sich augenblicklich mit der Meldung über die Offerte. Der Immobilienhändler M&M Reality zog das Angebot binnen eines Tages vorübergehend wieder zurück, um die Hausbewohner vor den herbeieilenden Journalisten mit ihren Kameras zu bewahren. Kauf­interesse bekundete indes nicht nur der zehnte Stadtbezirk, auf dessen Kataster sich das Haus befindet, sondern auch der Staat.

Bei der ausgeschriebenen Doppelhaushälfte handelt es sich um einen Ort, der sich in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einem Zentrum der intellektuellen Elite der Tschechoslowakei entwickelte. Vor 88 Jahren bezog das wohl berühmteste Geschwisterpaar der tschechischen Kunst- und Literaturhistorie das Haus in der später nach ihnen benannten Straße in Vinohrady: Karel und Josef Čapek. Hinter diesen Mauern tollte nicht nur Foxterrier Dášeńka umher, dem Karel Čapek mit seinem Kinderbuch „Daschenka. Das Leben eines jungen Hundes“ ein liebevolles Denkmal setzte. Hier spielten sich auch die Sternstunden großer Denker ab, die sich zur sogenannten Freitagsrunde in dem Haus zusammenfanden.

Als sich Karel Čapek in den frühen Zwanzigern entschied, seinen bisherigen Prager Wohnort zu wechseln, hatte er sich eigentlich vom öffentlichen Rummel um seine Person zurückziehen wollen. Wie er seiner einstigen Geliebten Věra Hrůžová schrieb, plante er, fortan höchstens einmal im Jahr durch ein neues Buch von sich hören zu lassen. Also entschied sich Čapek, die Kleinseite zu verlassen und nach Vinohrady zu ziehen. Was heute zu den schicksten Vierteln der Stadt gehört, vermittelte vor 100 Jahren noch ein ganz anderes Bild. Von Roggenfeldern und baufälligen Wirtschaftsgebäuden durchzogen galt das Viertel eher als dörfliche Peripherie. Ein idealer Ort für Čapek, sich in Ruhe dem Schreiben zu widmen.

Treffpunkt der Freitagsrunde
Nachdem er mit seinem drei Jahre älteren Bruder, dem Maler und Schriftsteller Josef, 1920 der Baugenossenschaft beigetreten war, gestaltete sich der Hausbau recht einfach. 1923 beauftragten die Geschwister den Architekten Ladislav Machoň mit dem Bau eines Doppelhauses. Nach dem Vorbild zeitgenössischer Gartenstadtsiedlungen entstand innerhalb von einem Jahr eine Doppelvilla im nüchternen Nationalstil der späten Kotěra-Moderne. 1925 bezogen die Brüder je eine Hälfte des Hauses. Links wohnte der drei Jahre ältere Josef mit Ehefrau Jarmila und Tochter Alena; rechts teilte sich Karel den Wohnbereich mit seinem verwitweten Vater Antonín Čapek. Später, nachdem Karel die Schauspielerin Olga Scheinpflugová geheiratet hatte, ließ er das Dachgeschoss ausbauen. Dessen eine Hälfte diente fortan als Atelier für seinen Bruder, in der anderen wurde ein Gäste- und Empfangsraum eingerichtet

Für Karel, einen Freund schöngeistiger, geselliger Runden, war es selbstverständlich, Kontakte mit Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern zu pflegen. Da er sich aufgrund eines Wirbelsäulenleidens die Nächte nicht wie die städtische Bohème in den Cafés um die Ohren schlagen konnte, lud Čapek seit Mitte der zwanziger Jahre Freunde zum Gespräch am Freitagnachmittag ein. Zur Runde, die – nach dem tschechischen Wort für Freitag – bald als „pátečníci“ bekannt wurde, gehörten neben den Brüdern zunächst Schriftsteller und Journalisten, später kamen Wissenschaftler, Ärzte, Juristen und Politiker hinzu. Freitagsgäste waren unter anderem der Schriftsteller František Langer, der Arzt und Autor Vladislav Vančura, der Dichter František Kubka, der Maler und Kunstkritiker Adolf Hoffmeister, der Dramaturg Karel Kraus, der Ökonom und Abgeordnete Josef Macek sowie der damalige Außenminister Edvard Beneš.

Der wohl prominenteste Freitagsgast war zweifelslos der erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik Tomáš Garrigue Masaryk. Karel Čapek lernte den Staatsmann 1922 kennen, später entwickelte sich zwischen beiden eine enge Freundschaft, die Čapek mit den berühmten „Gesprächen mit Masaryk“ dokumentiert. Von der Freitagsrunde selbst sind heute keine Zeugnisse erhalten. Als illustren Kreis, dem anzugehören eine Ehre war, beschrieb der Publizist Ferdinand Peroutka später die Runde, die bis zum Tod Karels 1938 zusammenkam. Ihr beizuwohnen, sei unwahrscheinlicher gewesen als eine Mitgliedschaft in der Tschechischen Akademie. Gesprochen wurde über Gott und die Welt, Kunst und Literatur sowie politische Probleme.

Karels unberührte Schreibstube
Wer heute, 75 Jahre nach dem Tod Karel Čapeks, die zum Verkauf stehende Haushälfte der Villa erwirbt, wird nicht nur Eigentümer eines denkmalgeschützten Beispiels für den Siedlungsbau der Zwanziger. Der künftige Besitzer – und das macht die Immobilie so kostbar – verfügt auch über den Nachlass eines der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Das erste Obergeschoss wurde laut Angaben der Nachkommen seit über 50 Jahren nicht mehr bewohnt. Die Räume geben damit ein weitgehend unverfälschtes Zeugnis des Genius Loci, einzig Čapeks Witwe Olga lebte dort nach seinem Tod. Unberührt blieb die Schreibstube Karels mit einer umfangreichen Bibliothek, zeitgenössischem Mobiliar, unveröffentlichten Handschriften, Fotografien, Notizbüchern und anderen Arbeitsutensilien. Überwiegend unangetastet blieb auch der ausgedehnte Garten mit dem Gewächshaus, das die zahlreichen Erinnerungsstücke von Karels Reisen beherbergt. Welche weiteren Schätze sich hinter dem Tor in der Straße der Brüder Čapek Nummer dreißig (ulice Bratří Čapků) verbergen, ist bisher unklar.

Der jetzige Hauseigentümer, ein Verwandter von Čapeks Frau Olga Scheinpflugová, schweigt sowohl über das Interieur als auch über die Gründe des plötzlichen Verkaufs. Sollte es dem Stadtteil oder dem Staat gelingen, die Villa zu erwerben – einem, wie Kulturministerin Alena Hanáková angesichts des Preises bekundete, eher aussichtslosen Unterfangen – würde das Gebäude der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Denkbar sei eine Forschungsstätte für Historiker und Literaturwissenschaftler oder ein Museum, so der Direktor des Nationalen Literaturarchivs Zdeněk Freisleben. Dem Brüderpaar jedenfalls würde damit ein Denkmal gesetzt.