„Kunst ist immer ein Geschenk“

Der Schweizer Marius Winzeler will die Prager Nationalgalerie weltoffener machen

3. 2. 2016 - Interview: Franziska Neudert, Foto: Národní galerie v Praze

Ein Faible für Alte Kunst hatte Marius Winzeler schon immer. Vor allem Kirchen haben ihn als Kind fasziniert. Zum Leidwesen seiner Eltern, erzählt er, konnte er an keinem Gotteshaus vorbeigehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Später studierte Winzeler Kunstgeschichte und leitete unter anderem die Städtischen Museen in Zittau. Vor knapp einem Monat kam der Schweizer nach Prag, um eine neue Stelle anzutreten. Als Direktor der Sammlung Alter Kunst ist es seine Aufgabe, eine neue Dauerausstellung für die Nationalgalerie vorzubereiten. PZ-Redakteurin Franziska Neudert sprach mit dem 45-Jährigen über diese Herausforderung und die Frage, warum mehrere Jahrhunderte alte Kunst den Betrachtern auch heute noch etwas zu sagen hat.

Sie arbeiten seit Anfang Januar in Prag. War die Stadt für Sie schon immer ein berufliches Ziel?
Marius Winzeler: Das kann ich so nicht sagen. Prag ist seit langem eine Traumstadt für mich, die mich auch wissenschaftlich umgetrieben hat. Aber dass ich hier arbeiten würde, hatte ich weder geplant noch zu träumen gewagt. Das ist eine große Chance und Herausforderung für mich. Gerade jetzt, wo sich die Institution im Umbruch befindet und die Weichen neu gestellt werden.

Welche Herausforderungen sehen Sie?
Die Nationalgalerie hat eine schwierige Entwicklung durchgemacht. Unter der Leitung Milan Knížáks hatte sie sich abgekapselt, sodass internationale Ausstellungen nicht mehr möglich waren. Wir müssen die Galerie öffnen und ihre Geschichte mit wegweisenden Ausstellungen und den Sammlungsbeständen selbst wieder aktivieren.

Welche Aufgabe fällt Ihnen als Leiter der Sammlung dabei zu?
Meine Hauptaufgabe ist es, bis 2020 eine neue Dauerausstellung hauptsächlich für das Schwarzenberg-Palais umzusetzen. Programmatisches Ziel ist es, die bisherige nationale Schubladisierung der Sammlungen aufzubrechen und ihren größeren Zusammenhang aufzuzeigen.

Was verstehen Sie unter Schubladisierung?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sammlung in böhmische und europäische Kunst aufgeteilt. Dabei hat man vergessen, dass es viele wichtige europäische Künstler gab, die nicht böhmischen Ursprungs waren, hier aber gewirkt und sich gegenseitig befruchtet haben. Das wollen wir betonen, ebenso wie die Geschichte der Sammlung selbst. Wir wollen die Trennung zwischen europäischer und böhmischer Kunst aufheben, historische Linien zeigen, der Geschichte folgen und die Vernetzung sichtbar machen. Und die Sammlung generell populärer machen.

Was reizt Sie an der Arbeit besonders?
Es ist fantastisch, wenn man in einem solchen Museum mit einem derart umfangreichen Bestand tätig sein darf. Gerade aus dem Mittelalter haben wir hier eine sensationelle Sammlung mitteleuropäischer Kunst. Ein besonderer Reiz sind die Gebäude, die als Rahmen für die Sammlungen einzigartig sind, aber derzeit nicht adäquat zur Geltung kommen.

Wie meinen Sie das?
Das Sternberg-Palais verträgt wesentlich mehr Besucher und auch eine angenehmere Atmosphäre. Die Sammlungen müssen attraktiver und lebendiger präsentiert werden. Wir wollen auch, dass die Nationalgalerie stärker wahrgenommen wird, sowohl im Inland als auch im Ausland. Es geht nicht darum, dass wir mehr Reisegruppen ins Sternberg-Palais lotsen. Wir wollen einen Ort für die Prager schaffen, der Teil des öffentlichen kulturellen Lebens ist. So wie der Messepalast vor allem junge Menschen anzieht, sollen die Palais rund um den Hradschiner Platz auch mehr Einheimische anlocken.

Schwarzenberg-Palais am Hradschiner Platz


Bisher ist die Sammlung Alter Kunst auf drei Häuser verteilt. Soll das so bleiben?

Laut Entwicklungsplan des Kulturministeriums wird das Schwarzenberg-Palais ein Museum für europäischen Barock. Im Sternberg-Palais soll asiatische Kunst zu sehen sein. Das Agnes-Kloster wird die Kunst vom Mittelalter bis zur Renaissance beherbergen. Das Entwicklungskonzept hat viele Bausteine, die voneinander abhängen. Viele grundsätzliche Dinge müssen erst geklärt werden und die sind natürlich auch mit viel Geld verbunden.

Zum Beispiel?
Wir haben ein zentrales Depot im Messepalast, aber darin gibt es keinen Platz mehr. Wir benötigen neuen Lagerraum. Außerdem müssen grundlegende Dinge verändert werden. Mir ist sehr wichtig, dass man die Gebäude nicht nur als traditionelle Hüllen nutzt, sondern dass sie zur Geltung kommen. Zwar ist das Sternberg-Palais prominent gelegen, aber es bleibt versteckt. Und es gibt keinen Aufzug. Aber auch für Menschen mit Handicap muss der Zugang zur Kunst möglich sein. Das ist eine Grundpflicht für so eine nationale Institution. Und Werke wie das berühmte „Rosenkranzfest“ von Albrecht Dürer müssen einen Platz finden, an dem sie besser zur Geltung kommen. Derzeit hängt es ja eher versteckt.

Was macht die Prager Sammlung international bedeutend?
Sowohl in der Plastik als auch in der Malerei umfasst die Sammlung Meisterwerke von Weltrang, auch wenn viele davon nicht Eigentum der National­galerie sind, sondern Leihgaben, wie zum Beispiel der Zyklus des Hohenfurther Altars. An diesen Werken kann man die Entwicklung von der späten Přemysliden-Zeit bis zu den Jagiellonen in ihrer ganzen europäischen Verflechtung exemplarisch aufzeigen. Die Sammlung geht über das Böhmische und Mährische weit hinaus.

Sie sprachen davon, Alte Kunst populärer zu machen. Wie wollen Sie das erreichen?
Indem wir die Nationalgalerie öffnen, sie präsenter machen und die Ausstellungsräume beleben. Das kann durch Führungen oder Gesprächskreise geschehen, auch auf Deutsch. Die Kulturgeschichte der Stadt ist auch ein Stück weit deutsch geschrieben. Deshalb möchte ich Zugänge für deutschsprachige Besucher und Bewohner der Stadt schaffen. Für die Nationalgalerie findet man nirgends größere Werbung, nur für einzelne Ausstellungen, nicht aber für die Sammlungen selbst. Für das, was man hier sehen kann, ist die Resonanz zu gering.

Woran liegt das?
Ein Problem der Alten Kunst ist, dass sich die Gesellschaft von den Themen entfernt hat, die die Künstler damals beschäftigten. Weder die mythologischen noch die biblischen Gestalten sind uns so vertraut, dass wir sofort etwas mit ihnen anfangen könnten. Deshalb müssen wir grundlegend erklären, was eigentlich dargestellt ist. Die Geschichten sind sehr wichtig. Das soll eine große Rolle in der neuen Ausstellung spielen.

Warum sind die Geschichten so wichtig?
Weil diese Kunst – anders als moderne – nicht nur sich selbst genügt. Alte Kunst ist an einen konkreten Inhalt, ein bestimmtes Thema gebunden. Gerade in einer extrem säkularisierten Gesellschaft wie in Tschechien ist man von der christlichen Ikonographie, mit der die barocken Künstler in einer virtuosen Opulenz geradezu gespielt haben, schnell abgestoßen. Aber diese Werke sind mehr als nur kirchliche Kunst. Das gilt auch für mythologische Bilder. Wenn man sich fragt, was diese Motive und Geschichten mit den Menschen damals zu tun hatten, können spannende Dialoge entstehen. Wir können Dinge entdecken, die uns auch heute noch etwas sagen. In dieser Hinsicht ist Kunst immer ein Geschenk. Sie gibt uns etwas.

Norbert Grund: Die Ernte (1750)

Haben Sie Lieblingsbilder in der Sammlung Alter Kunst?
Zu meinen Lieblingsbildern zählen sicherlich die Werke von Norbert Grund. Er gehörte im 18. Jahrhundert zu den führenden Malern in Prag. Grund schuf ganz kleinformatige Gemälde, die unglaublich delikat sind. Sie sind so faszinierend, weil Grund in dieser Mozart-Zeit, als Prag keine zentrale Bedeutung hatte, die Einflüsse der französischen und venezinaischen Kunst einbezog. Kurz vor der Französischen Revolution – die alte Welt stand quasi am Abgrund – malte er in diesem kleinen Kabinett-Format traumhaft schöne, kleine stille Szenen.

Finden Sie Alte Kunst einfacher zu verstehen als abstrakte moderne Kunst?
Nein, das würde ich nicht sagen. Beide verlangen eine Offenheit und Bereitschaft, sich auf das Objekt einzulassen. Das ist bei moderner Kunst mitunter schwieriger, weil man nicht weiß, wo man ansetzen kann, da der konkrete Gegenstand fehlt. Andererseits ist uns moderne Kunst heute näher. In der Alten Kunst findet man zwar Gegenstände und Gestalten, die den Zugang zunächst erleichtern, aber die Codes und die Verschlüsselung sind so stark und wir sind so weit davon entfernt, dass uns mitunter abstrakte Dinge leichter fallen. Beide Arten von Kunst bedürfen einer guten Vermittlung und die soll vor allem Lust machen. Man muss auch nicht immer alles verstehen. Man kann ein barockes Bild auch einfach als sinnliches Objekt genießen.

Können Sie sich als Kunst­historiker Bilder noch einfach anschauen, ohne sie zu sezieren?
Ich denke schon. Das muss man sich erhalten. Hier in der Galerie kenne ich ja zum Glück noch nicht alles so gut. Wenn man eine Sammlung innerlich schon gescannt hat und denkt, man wisse alles über sie, dann muss man sich von diesem Wissen wieder lösen, sich neu auf die Werke einlassen. Das ist eine Herausforderung und eine Fähigkeit, die man sich bewahren muss.

Welche war die letzte Ausstellung, die Sie beeindruckt hat?
Sehr gelungen finde ich die Ausstellung „Bez hranic“ über die Erzgebirgskunst im Waldstein-Palais. Ansonsten liegen die Ausstellungen, die mir wirklich gut gefallen haben, schon eine Weile zurück, die Propheten-Ausstellung im Messepalast zum Beispiel. Und die schönste Ausstellung, die ich jemals in Prag gesehen habe, war die über Meister Theoderich von Prag im Agnes-Kloster. Da war ich mindestens viermal, weil sie so zauberhaft war.

Was macht eine Ausstellung zu einer guten oder sogar zauberhaften Ausstellung?
Sie muss ein intelligentes Konzept haben und eine Idee vermitteln, die aber nicht so penetrant ist, dass man sofort durchschaut, was der Kurator zeigen will. Eine gute Ausstellung muss die Kunstwerke zum Leuchten bringen und überraschen, und sie muss mich als Betrachter irgendwie überwältigen – sowohl im ästhetischen als auch im intellektuellen Sinn. Ausstellungen sind ein eigenes Medium, sie funktionieren erst in der Konfrontation mit dem Objekt. Wenn das so zur Darstellung gebracht wird, dass man irgendwie berührt ist, dann ist die Ausstellung gelungen.

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