Leben im Ghetto
Immer mehr Menschen in Tschechien wohnen in Armenvierteln
11. 2. 2015 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: Martin Nejezchleba
Die Wohnungen sind fast alle baufällig, die meisten Nachbarn arbeitslos, die Kriminalitätsrate ist überdurchschnittlich: Immer mehr Menschen in Tschechien leben in einem Armenghetto am Stadtrand – in einer Umgebung, in der es an jeglicher Perspektive fehlt.
Im Jahr 2006 wurden im ganzen Land etwa 300 Armenviertel gezählt, in denen rund 80.000 Menschen wohnten, die meisten von ihnen Roma. Mittlerweile geht der Chef der Regierungsagentur für soziale Integration Martin Šimáček davon aus, dass es schon etwa 400 solcher Ghettos gibt. Konkrete Zahlen darüber, wie viele Menschen dort wohnen, soll eine vom Arbeitsministerium in Auftrag gegebene Analyse noch in diesem Jahr ermitteln. Schon jetzt geht aber aus einem Bericht der Regierungsagentur hervor, dass sich die Bedingungen in diesen Siedlungen in den vergangenen vier Jahren nicht verbessert haben. Ein Grund dafür ist, dass von der Regierung beschlossene Maßnahmen von den Behörden nicht umgesetzt wurden.
Untersucht wurden die Bereiche Sicherheit, Beschäftigung und Wohnen. In dem Bericht heißt es, dass sich die Sicherheitslage in den Vierteln „nicht grundsätzlich verbessert“ habe. Nach wie vor seien Kriminalität, Drogenmissbrauch und Spielsucht verbreitet. Die Untersuchungen von Straftaten sei aufgrund komplexer Verflechtungen oft schwierig, daher seien Polizisten häufig nicht bereit, sich mit einem Fall zu befassen. Außerdem würden die erhöhten Anforderungen an Polizeibeamte und andere Beschäftigte, die in den Armenvierteln arbeiteten, sich nicht in deren Gehältern widerspiegeln. Es fehle eine besondere Ausbildung für Sicherheitskräfte zum Thema soziale Ausgrenzung und Sozialarbeit mit Menschen, die aus dem Gefängnis in ein Armenviertel zurückkehren. Es mangle zudem an Spezialisten im Kampf gegen Mietwucher.
Auch die Wohnsituation habe sich eher noch verschlechtert. Seit 2011 nahm die Zahl der Haushalte und der Personen zu, die in Sozialunterkünften untergebracht sind. Die Preise dort seien oft viel zu hoch und überstiegen die üblichen Kosten bei Weitem. Zudem sei bei vier von fünf Häusern eine Teil- oder Komplettsanierung notwendig. Es fehle jedoch an Mitteln für die Renovierung bewohnter Anlagen. Oft wohnten die Betroffenen unter beengten Verhältnissen in überteuerten Wohnheimen. Weil viele Familien häufig umziehen, sei eine langfristige Betreuung Bedürftiger durch Sozialarbeiter oft nicht möglich. Zudem müssten Kinder immer wieder Klassen und Schulen wechseln. Bisher gelinge es in vielen Fällen nicht, sie in Regelschulen aufzunehmen, oft besuchen sie sogenannte „Sonderschulen“.
Ernüchternd fallen auch die Ergebnisse zum Thema Beschäftigung aus: 30 bis 60 Prozent der erwachsenen Ghetto-Bewohner sind laut Bericht arbeitslos. Verdienstmöglichkeiten finden sie hauptsächlich als unqualifizierte Arbeitskräfte oder als Saisonarbeiter. Auch sei Schwarzarbeit verbreitet, viele Bewohner seien hoch verschuldet.
Die damalige tschechische Regierung hatte vor vier Jahren eine „Strategie für den Kampf gegen soziale Isolation“ verabschiedet. Diese sah für die Jahre 2011 bis 2015 einen Aufgabenkatalog mit 71 Maßnahmen vor, unter anderem in den Bereichen Sicherheit, Wohnen, Soziale Dienste, Gesundheit und Bildung. Lediglich 18 Maßnahmen wurden erfüllt, heißt es in dem aktuellen Bericht. 26 wurden zumindest teilweise umgesetzt und 24 überhaupt nicht, drei wurden gestrichen. „Es ist offenkundig, dass nicht die gewünschte Wirkung erzielt wurde“, schreiben die Autoren des Berichts. Ihnen zufolge kam es mancherorts stattdessen zu einem weiteren Verfall, ohne dass die öffentliche Verwaltung ausreichend darauf reagiere. Daher sei es notwendig, das Vorgehen besser zu koordinieren. Der Minister für Menschenrechte Jiří Dienstbier (ČSSD) arbeitet derzeit am Strategieprogramm für die Jahre 2016 bis 2020. Der erste Entwurf soll Mitte des Jahres vorgelegt werden.
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