Lebensgeschichten

Beim dritten Wettbewerb im kreativen Schreiben berichten Schüler aus vergangenen Zeiten

8. 5. 2013 - Text: Stefan GitmanText und Bild: Stefan Gitman

 

„Wiederbelebung der Vergangenheit.“ So lautete das Thema des Wettbewerbs im kreativen Schreiben, den das Thomas-Mann-Gymnasium und das Goethe-Institut in Prag in diesem Jahr ausgeschrieben hatten. Beim dritten Jahrgang des landesweiten Literaturwettbewerbs konnten alle tschechischen Schulen teilnehmen, die das Deutsche Sprachdiplom anbieten. Die Aufgabe für die Schüler: „Versetze dich in die Vergangenheit und schildere einen Tag aus dem Leben einer Person oder Persönlichkeit“. Unterteilt in zwei Kategorien erreichten die Jury 22 Texte und Bildbeiträge, mit denen die Geschichten gestalterisch untermalt werden sollten. Die erste Kategorie umfasst die Klassenstufen 7 bis 9. Die Schüler erhielten die Aufgabe, einen wichtigen Tag aus dem Leben eines ihrer Vorfahren zu schildern. Einen bedeutenden Tag aus dem Leben einer historischen Persönlichkeit hingegen sollten die Schüler der Klassenstufen 10 bis 12 beschreiben, der zweiten Kategorie.

Die PZ stellt im Folgenden den Gewinner in Kategorie II vor.

Ludwigs letzter Tag
Das kleine Kind, das vor mir steht und mit seiner Mutter spielt, bin ich das? Der sechsjährige Junge erschreckt sich, als ein Mann mit einer großen, weißen Perücke in sein Zimmer eintritt. Dieser schaut den Kleinen wie erstarrt an, bis die Mutter im irritierten Ton sagt: „Minister, Sie wissen doch, dass Sie nichts im Zimmer meines Sohnes –“, doch der Mann unterbricht sie:

„Votre Altesse1), Verzeihung, aber ich muss Ihnen eine traurige Nachricht mitteilen…“
„Ist er tot?“, fragt die Frau mit verdeckter Traurigkeit in ihrer hohen Stimme.
„Ja, Madame, Son Altesse Royale Ludwig Ferdinand ist gestorben. Der Junge ist der neue König.“

Die beiden Erwachsenen schauen den Kleinen erstaunt an. Mich starren sie an, denn ich bin das Kind! Das ist also meine Mutter, ja, das ist die schöne Maria Josepha, und wie jung sie noch ist!

Und jetzt? Was ist mit dem Kind – mit mir – passiert? Was ich jetzt sehe, ist etwas komplett anderes: Ich erblicke die Straßen von Paris, gefüllt mit weit über hunderten von verkleideten Menschen. Doch zwei von ihnen heben sich von der Masse ab: ein einzigartiges Mädchen im goldenen, teuren Kleid und ein etwa 15-jähriger Junge mit der Krone des alten Königs auf dem Haupt. Sie küssen sich zart auf die Lippen und projizieren ihre jugendliche, sündenfreie Liebe auf alle Menschen, die nun jubeln und applaudieren. Das bin wieder ich, oder? Der junge Mann da, das bin ich! Meine Hochzeit, meine Frau! Wie jung sie ist, die Marie Antoinette! Wie unerfahren und glücklich wir beide sind…

Nun flüchtet das Ehepaar. Viel älter und mit drei Kindern läuft die königliche Familie in der Nacht weg von Versailles und in das östliche Viertel von Paris, wo eine Kutsche auf sie wartet. Daran erinnere ich mich noch: die heiße Nacht im Juni 1791, als ich mit meiner Familie nach Varennes fliehe. Vor den radikalen Gruppen rennen wir weg, vor den Revolutionären, die meinen Kopf bei meinen Füßen sehen möchten. Diese Szene schaue ich mir nicht an, denn ich weiß schon, wie sie endet. Varennes erreichen wir nämlich nicht, wir werden schon bei den mächtigen Toren Versailles‘ von den Radikalen gefangen genommen.

„La conspiration contre la liberté publique et la sûreté générale de l’État2), wie lächerlich! Wissen sie nicht, wie viel wir für sie in den letzten zehn Jahren gemacht haben? Du hast regiert wie ein wahrer König, das Leben der Franzosen hast du nie außer Acht gelassen. Dankbar sollten diese Imbéciles3) sein!“, schreit Marie Antoinette durch die Gegend, wobei die feinen Falten ihres Gesichts sichtbar werden.

„Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen könnte. Die Revolution hat sich so schnell ausgebreitet. Wie ein Tier, das immer weiter wächst, und wir sind sein Futter!“, antworte ich.

Das ist kurz vor meiner…Hinrichtung; ja, ich erinnere mich. Die letzte Stunde in meinem Leben, die ich mit meiner Frau verbringe. Wenigstens das hatten uns die Radikalen erlaubt.

„Ich habe Angst, Ludwig“, flüstert sie mir ins Ohr.
„Das brauchst du nicht, Liebes. Nach meinem Tod wird alles enden. Du und die Kinder, ihr werdet ein glückliches Leben führen. Auch wenn das Ancien Regime mit meiner Hinrichtung endet. Du weißt, wo das Geld ist?“, frage ich. Sie nickt und sieht mich an. Eine Träne aus ihren himmlisch blauen Augen rollt langsam ihre Wange hinab.
„Du kannst keinem mehr vertrauen“, sage ich. Wieder nickt die einst junge, wundervolle Marie. Das in den letzten Jahren Geschehene hatte sie geschwächt und altern lassen. Und mich, wie ich nun sehe, anscheinend auch. Ich küsse sie langsam und zart, es ist unser letzter Kuss.

Mit dem Kuss unserer Heirat kann man diese Abscheulichkeit hier nicht vergleichen. Damals ist es wahre Liebe zwischen uns gewesen, aber jetzt… Ich glaube, in diesem Augenblick hat meine Frau erfahren, dass ich es weiß. Und dass es viel mehr als jene Hinrichtung schmerzt: Sie ist untreu gewesen, viele Jahre zuvor. Anstatt sie damit zu konfrontieren und meine ganze Familie bloßzustellen, entschied ich mich, es zu vergessen. Dies ist mir jedoch nie gelungen. Und nach unserem letzten Kuss wusste sie das auch.

Ich öffne meine Augen und werde kurzzeitig vom strahlenden Licht der Sonne geblendet. Ich sehe die riesige Menschenmenge vor mir und werde schnell von der Wirklichkeit eingeholt. Das ist mein Leben gewesen, ja, was für ein Leben… Jetzt endet es aber:  Ich stehe beim Schafott in schmutziger, aber immer noch königlicher Kleidung. Nicht bei meiner Thronbesteigung, nicht mal bei meiner Heirat habe ich so viele Leute gesehen. Wie lustig es eigentlich ist, dass sich abertausende Menschen versammelt haben, um meiner Hinrichtung beizuwohnen. Ich verziehe den Mund, als ich höre, was die Menschenmenge schreit: „Es sterbe der König!“. Vor kurzem war es ja noch „Es lebe der König!“, dachte ich?

Das Einzige, was mich noch retten kann, ist das Parfüm. Das verhexende, göttliche Parfüm aus Grasse, von dem mir meine Mutter erzählt hat als ich noch jung war… Hah! Schau dich doch an, Ludwig! Seit wann glaubst du an solche lächerlichen Mythen? Ich atme tief ein und lasse den Gedanken los. Ich bin ja schließlich immer noch König, und Könige glauben nicht an Märchen für kleine Kinder!

Wie unpassend es ist, dass ich zu lächeln beginne. Aber es gibt so viele Gründe zu grinsen: Ich erinnere mich, wie mich alle Minister, meine Freunde, noch vor einem Jahr unterstützt und geliebt haben. Nun stehen sie in der ersten Reihe vor dem Schafott und freuen sich, dass ich sterben werde. Denken sie etwa, dass sie die Macht im Staat übernehmen können? Sie sollten froh sein, wenn die Radikalen sie nicht foltern, sondern schnell und schmerzlos exekutieren. Und jetzt fange ich an, richtig zu lachen. Ich, der König von Frankreich und Navarra, werde bald sehen, wie „schmerzlos“ so eine Hinrichtung wirklich ist. Ich lache und lache und lache so dümmlich wie ein Narr. Und wen lache ich aus? Die Minister mit ihrer ridikülen Oberflächlichkeit, meine Frau mit ihrer oberflächlichen Liebe, die Radikalen mit ihrem liebevollen, keinesfalls brutalen Lebensziel, mich hingerichtet zu sehen …Die bessere Frage ist wohl: Worüber lache ich nicht?

In meinem letzten Augenblick auf dieser Erde belustige ich mich über die französische Gesellschaft, ja über die ganze Menschheit und wie sie funktioniert und über mein ganzes Leben. Und somit fürchte ich den Todesengel nicht mehr; lasset ihn ruhig kommen! Ich bin froh, dass ich diese lächerliche, groteske Welt verlasse. Und als das Fleisch und die Venen meines Halses zerschnitten werden, als die schwere Klinge meinen Kopf von meinem Körper trennt, fühle ich nicht den kleinsten Tropfen Schmerz, denn meine Seele ist seit langem bereit, aus dieser Welt zu flüchten.

Der Faden meines Lebens endet. Ich sehe, höre, rieche, schmecke, spüre gar nichts mehr. Ich fühle mich endlich befreit.

1) Eure Hoheit
2) Verschwörung gegen die öffentliche Freiheit und die Sicherheit des gesamten Staates
3) Idioten

Stefan Gitman, Deutsche Schule Prag, Preisträger in Kategorie II