Lieber Debakel als Wortbruch

Lieber Debakel als Wortbruch

Wie ein Abgeordneter zum Polizeispitzel abgestempelt wurde: Vor hundert Jahren sorgte die Šviha-Affäre für Aufsehen. Franz Kafka soll sie zu seinem Roman „Der Proceß“ inspiriert haben

15. 5. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Archiv Nadace Langhans Praha. www.langhansarchiv.cz

Am Morgen des 16. Mai 1914 steckten die tschechischen Zeitungsleser ihre vor Aufregung hochroten Köpfe in den Prager Kaffeehäusern genauso neugierig hinter ihre Lieblingsblätter wie an den vorangegangenen Tagen. Denn vom 13. bis 15. Mai fand in Prag der Šviha-Prozess statt, und am 16. Mai brachten die Zeitungen nicht nur den Verlauf der Verhandlung vom Vortag (größtenteils sogar als Wortprotokoll), sondern nun auch das Urteil der Geschworenen. Das Blatt der Jungtschechen, „Národní listy“ (Nationalblätter), triumphierte mit fetter Überschrift „Vítězství Pravdy!“ („Sieg der Wahrheit!“); die deutsche „Bohemia“ konstatierte etwas nüchterner „Šviha verurteilt. Heller freigesprochen“.

Dass die „Bohemia“ gleichsam die Position eines neutralen Beobachters des Prozesses einnehmen konnte, hatte seine Gründe in der Natur des Falles selbst: Karel Šviha, im Wiener Reichsrat Fraktionsführer der kleinbürgerlich radikalen National-Sozialen Partei, hatte nämlich gegen die „Národní listy“, vertreten durch den Redakteur Servác Heller, eine Verleumdungsklage angestrengt: Das Blatt bezichtigte Šviha Anfang März 1914, ein Spitzel der österreichischen Staatspolizei zu sein, ihr vertrauliche Informationen über die tschechischen Parteien zuzutragen, sein dunkles Werk unter dem Decknamen „Wiener“ zu verrichten und dafür monatlich 800 Kronen zu empfangen (ein ansehnlicher Judaslohn, wenn man bedenkt, dass damals ein hoher Staatsbeamter nur etwa die Hälfte davon am Monatsende nach Hause trug). Kurz: ein schwerer Verrat an der eigenen Nation.

Die „Národní listy“, die sich ihrer Sache anscheinend sicher waren, machten seit 4. März 1914 mehrmals hintereinander auf der ersten Seite mit der Schlagzeile auf „Der National-Soziale Führer in den Diensten der Polizei“. Und jedes Mal brachten sie neue Einzelheiten, zitierten ausführlich die empörten Berichte und Kommentare anderer tschechischer Zeitungen und „widerlegten“ in immer neuen Wendungen die Einlassungen Švihas oder seiner Partei. Aber die Affäre war von Beginn an auch von allerlei Merkwürdigkeiten begleitet.
Schon sehr bald mussten die „Národní listy“ und die mit ihnen verbundenen Jungtschechen eingestehen, dass die über die angebliche Spitzeltätigkeit Švihas gesammelten Hinweise schon fast drei Jahre alt waren. Nur machten die „Národní listy“ zunächst von dem Material keinen Gebrauch, weil die jung­tschechische Freisinnige Nationalpartei seinerzeit mit Švihas Partei bei den anstehenden Reichtagswahlen zusammengehen wollte. Inzwischen aber waren beide Parteien zu politischen Konkurrenten geworden, und da kam es den schwächelnden Jungtschechen sehr gelegen, den zweitwichtigsten Führer der erstarkenden National-Sozialen Partei zu erledigen, womit sie natürlich auch (oder vor allem) der Konkurrenzpartei selbst einen gewaltigen Schlag zu versetzen hofften. Dieser taktische Einsatz des Materials aus der Schublade wurde allgemein verurteilt: Die „Národní listy“ hätten dem Verrat – wenn es denn einer war – sofort Einhalt gebieten müssen, als er ruchbar geworden war, sozusagen über die Niederungen des Parteigezänks hinweg im höheren nationalen Interesse.

Auf der anderen Seite aber verhielt sich der bedrängte Šviha keineswegs wie jemand, der alles daran setzt, seinen Namen vom Makel eines käuflichen Verräters reinzuwaschen und zudem seine gewiss glänzende Zukunft als Politiker auf Reichsebene zu retten. Zwar bestritt er vehement, ein Spitzel der österreichischen Polizei zu sein und vertrauliche Informationen verraten zu haben, noch dazu für Geld, und er konnte auch – jedenfalls vorerst noch – seine Parteifreunde von seiner Unschuld überzeugen. Dies jedoch mehr durch ehrenwörtliche Versicherungen und Verweise auf seine Verdienste zum Wohle von Partei und Nation, nicht durch die Vorlage entlastender Beweise.
Eher schon nahmen es seine politischen Freunde mit Verwunderung auf, dass Šviha mit großer Geste seine Bereitschaft kundtat, sein Abgeordnetenmandat zur Disposition zu stellen, und zugleich verkündete, die „Národní listy“ unverzüglich zu verklagen. Und die Verwunderung wurde größer, als Šviha eingestehen musste, mit Kommissar Klíma von der Staatspolizei tatsächlich öfter Kontakt gehabt zu haben – natürlich in gänzlich anderen Angelegenheiten. Als schließlich das sozialdemokratische Blatt „Právo lidu“ am 9. März, nicht einmal eine Woche nach dem Startschuss der Affäre, mit der Sensation auf den Markt kam, dass Šviha sich zwei Tage zuvor unter konspirativen Umständen erneut mit Kommissar Klíma zu einer langen Unterredung getroffen hatte, brachen die Dämme: Die National-Soziale Partei drängte Šviha zum Rückzug aus dem Reichsrat und schloss ihn aus ihren Reihen aus.

Nachdem Šviha, nunmehr mit dem Rücken zur Wand, sein Reichstagsmandat aufgegeben und gleichzeitig erklärt hatte, er werde auf die Klage gegen die „Národní listy“ verzichten, schien der Fall abgeschlossen. Umso größer war die Überraschung, als er am 7. April doch noch gegen den verantwortlichen Redakteur der „Národní listy“ klagte. Damit schien klar: Šviha müsse jetzt in der Lage sein, seine Unschuld zu beweisen. Verständlich daher, dass ganz Prag mit höchster Anspannung dem Prozessbeginn am 13. Mai entgegenfieberte; alle 400 Plätze im Zuschauerraum waren schon vorzeitig vergeben, um die 50 Pressevertreter, darunter auch aus Wien und Deutschland, waren registriert. Auf den Zuschauerrängen fand sich unter den namhaftesten Vertretern der tschechischen Politik auch Tomáš Garrigue Masaryk, der gerade seinen 64. Geburtstag hinter sich hatte. Dieser hatte Šviha mit Václav Bouček einen zweiten Verteidiger verschafft, einen Vertreter der Tschechischen Volkspartei (umgangssprachlich vor allem als Masaryks „Realistische Partei“ bekannt) und eloquenten Advokaten.

Doch für Šviha endete der Prozess mit einem Fiasko: Die Geschworenen wiesen einstimmig die Klage zurück und erkannten die Spitzeltätigkeit des Klägers als erwiesen. Zwar war Šviha damit nicht „verurteilt“, wie die „Bohemia“ formulierte, jedenfalls nicht im strafrechtlichen Sinne. Weitergabe von Informationen an die („eigene“) österreichische Polizei konnte ja nicht strafbar sein. Treffender war da schon das Fazit, welches dieselbe Zeitung am nächsten Tag zog: „bürgerlicher Tod“ wegen Volksverrat. Šviha vermochte vor Gericht nicht zu überzeugen, eher gab er Rätsel auf, denn durch sein Lavieren, seine schwammigen Erklärungen und seine gespielte Uninteressiertheit enttäuschte er die Erwartungen all jener, die geglaubt hatten, er könne nun entscheidende Trümpfe ausspielen. Das Blatt der National-Sozialen Partei „České slovo“ („Tschechisches Wort“) schüttelte ihren einstigen Star endgültig ab und verstieg sich zu einer bedenklichen Losung: „Der unglückselige Fall Šviha kann unsere Partei nicht im Geringsten schädigen. Für uns ist die Idee alles, das Individuum nichts, uns wird sogar der Verrat in den eigenen Reihen stählen.“

Und dennoch: Einen schlagenden Beweis für Švihas Spitzeltätigkeit hatte dem Gericht niemand vorgelegt. Die Wiener Regierung hatte nämlich Kommissar Klíma und anderen Polizeibediensteten untersagt, vor Gericht auszusagen. Nur sie hätten klipp und klar belegen können, welcher Art denn Švihas Kontakte waren und welche Schriftstücke von ihm mit welchem Ziel übergeben worden waren. Masaryk, der am zweiten Prozesstag als Zeuge aufgetreten war, hatte zwar unmissverständlich auf die Ungereimtheiten hingewiesen, war aber nicht in der Lage, die Angelegenheit aufzuklären – noch nicht.

Freilich hatte Masaryk schon mehrmals bewiesen, dass ihn nicht nur die Fähigkeit auszeichnete, rätselhafte Verwicklungen aufzulösen, sondern auch der Mut, sich mit der Auflösung gegen den Strom zu stellen – selbst um den Preis schwerer persönlicher Nachteile. Herausragende Beispiele waren die Entlarvung der Königinhofer und Grünberger Handschriften als Fälschungen und sein Eintreten für den zu Unrecht wegen Ritualmordes zum Tode verurteilten jüdischen Schuster Leopold Hilsner. Der Fall Šviha, der die Volksseele seit Wochen hochkochen ließ, bot ihm nun erneut Gelegenheit, dem hussitischen Schlachtruf „die Wahrheit siegt“ zum Durchbruch zu verhelfen.
Am 7. Juni war es soweit. Auf einer Versammlung seiner „Realistischen Partei“ in Prag setzte Masaryk im prall gefüllten Saal seinen zunehmend angespannter folgenden Zuhörern den wahren Sachverhalt in einer rund zweistündigen, dramatische Effekte nicht aussparenden Rede auseinander. Im Kern legte er dar, Šviha sei kein bezahlter Polizeispitzel, kein Verräter, sondern habe für den auf Schloss Konopiště sitzenden Thronfolger Franz Ferdinand und auf dessen Veranlassung hin Memoranden über die wesentlichen politischen und kulturellen Forderungen der Tschechen zusammengestellt. Solche Unterlagen ließ sich der Thronfolger von politischen Köpfen aus den verschiedensten Ländern und Provinzen des Habsburgerreiches ausarbeiten, um sie für sein Reformprogramm zu verwenden, das er nach dem ersehnten Ableben Kaiser Franz Josephs umsetzen wollte. Die Prager Polizeidirektion hatte Franz Ferdinand lediglich als Mittler eingeschaltet und dabei Kommissar Klima angewiesen, an Šviha ein üppiges Honorar zu zahlen – aus der Polizeikasse, womit er einmal mehr seinem Ruf als Geizhals gerecht wurde. Šviha verwendete das Geld übrigens für „gute Zwecke“, einen Teil zum Beispiel spendete er für den antimilitaristischen Fonds der national-sozialen Jugend.

Da strengste Vertraulichkeit vereinbart war, fand sich Šviha durch die Affäre in einer Klemme, aus der er sich selbst nur durch Wortbruch hätte befreien können. Und sein Parteivorsitzender, Václav Klofáč, der von Anfang an nicht nur eingeweiht war, sondern Šviha geradezu mit der heiklen Aufgabe beauftragt hatte, schwieg beharrlich. Lieber ließ er seinen Parteifreund über die Klinge springen, als die Partei und sich selbst in den Geruch zu großer Nähe zu den (künftig) Mächtigen gelangen zu lassen. Nach Masaryks Enthüllungen wurde Klofáč denn auch sehr kleinlaut, hielt sich jedoch weiterhin möglichst bedeckt. Im Nachhinein ist schwer zu entscheiden, welche Steigerung des Adjektivs „schäbig“ angemessen ist, um die mediale Begleitmusik zu bezeichnen, mit der Klofáč und seine Partei den Sturz Švihas ins Bodenlose förderten. Franz Ferdinand seinerseits schickte noch vor Prozessbeginn einen Emissär zu Šviha, um diesen an die vereinbarte Verschwiegenheit zu erinnern, nicht ohne dem Unglücklichen einen Ausgleich zu versprechen, der freilich mit den Schüssen von Sarajevo zerplatzte.

Heute ist Šviha in Vergessenheit geraten. Drei Wochen nach dem fulminanten Auftritt Masaryks sah sich das Habsburgerreich durch das Attentat auf das Thronfolgerpaar vor gänzlich andere Probleme gestellt. Šviha verließ die Politik, verdingte sich als Jurist in privaten Unternehmen und verstarb Mitte 1937 im Alter von 60 Jahren. Soweit die Presse überhaupt davon Notiz nahm, galt er nicht mehr als Verräter der Nation. Weitere Nachforschungen nach dem Ersten Weltkrieg hatten nämlich die Darstellung Masaryks bestätigt und nach Öffnung der Polizeiarchive nur noch einige Farbtupfer hinzugefügt.

Geblieben ist das umgangssprachliche Wort „průšvih“ (Debakel, Pleite), das sich dem Namen des vermeintlichen Verräters verdankt. Außerdem hat ein tschechischer Historiker die These aufgestellt und durch akribische Vergleiche zu stützen versucht, Kafka verdanke der Šviha-Affäre die Inspiration zu seinem Roman „Der Proceß“, den er etwa zwei Monate später zu schreiben begann. Die kürzlich vollendete „Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone“ sieht mit der Affäre einen Aspekt der tschechischen Politik bestätigt, nämlich deren Neigung zur Nabelschau, die ihr bis heute eigen sei. Die tschechischen Politiker hätten sich ganz von einer eher unbedeutenden Affäre hinreißen lassen, so dass sie gar nicht bemerkten, was hinter den Rändern des böhmischen Kessels geschah: dass sich ein Krieg anbahnte. Und als er dann ausbrach, war man völlig überrascht und ratlos. Nicht anders sah es Masaryk in seinen Gesprächen mit Karel Čapek: „Die Šviha-Affäre! An ihr sieht man, wie unvorbereitet wir auf die Dinge waren, die vor uns lagen.“