Liebes Leid und Lust
Vor 100 Jahren begegneten sich Karl Kraus und Sidonie Nádherný
4. 9. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach
Wie wird mir zeitlos. Rückwärts hingebannt
weil’ ich und stehe fest im Wiesenplan,
wie in dem grünen Spiegel hier der Schwan.
Und dieses war mein Land.
Die vielen Glockenblumen! Horch und schau!
Wie lange steht er schon auf diesem Stein,
der Admiral. Es muss ein Sonntag sein
und alles läutet blau.
Dieses Gedicht ist eines der zahlreichen „Worte in Versen“, die Karl Kraus der Baronin Sidonie Nádherný von Borutin in den knapp 23 Jahren ihrer wechselvollen Beziehung widmete. Vor einhundert Jahren, am 8. September 1913, begegneten beide einander zum ersten Male im Wiener Café Imperial, wo Max Graf Thun den ebenso bekannten wie gefürchteten Herausgeber der „Fackel“ seiner entfernten Verwandten Sidonie Nádherný vorstellte. Der damals 39-jährige Kraus, 1874 im ostböhmischen Jičín geboren, wo er seine früheste Kindheit verbracht hatte, und die um gut elf Jahre jüngere Sidonie vertieften sich rasch in ein lebhaftes Gespräch, das sie bis in die späte Nacht und am folgenden Tag teils in Gesellschaft, teils zu zweit fortsetzten: Sie waren einander verfallen, wie es beide in ihrem Leben noch nie erfahren hatten. Ein Liebesroman der europäischen Literatur, wie er bei der Verschiedenheit von Herkunft, Bildungsweg und Lebensstil der Protagonisten nicht zu erwarten war, nahm seinen Lauf.
Sidonie, Ende 1885 in Vrchotovy Janovice (Janowitz; etwa 60 Kilometer südlich von Prag) als jüngstes von drei Geschwistern in eine deutschböhmische, erst Mitte des 19. Jahrhunderts in den Adel erhobene, Familie geboren, trug seit Mai 1913 schwer am plötzlichen Verlust ihres anderthalb Jahre älteren Bruders Jan. Kraus gegenüber sprach sie von der „Wüste“, die sie umgebe. Jan hatte sich drei Monate vorher, unheilbar krank, in München das Leben genommen. Er war Sidonies Lieblingsbruder, ihr engster Vertrauter, häufiger Reisebegleiter und kluger Ratgeber in Fragen des Lebens wie der Literatur und Kultur. Sein Tod stürzte sie in eine Krise. Die dem Leben zugewandte, reiselustige und bildungsbeflissene junge Baronin konnte sich eine Zukunft ohne ihren geliebten Bruder Jan schlechterdings nicht vorstellen. Geblieben war ihr der ältere Zwillingsbruder Karl, der nun als Familienältester die Verantwortung für Schloss Janowitz und die dazu gehörenden Meierhöfe übernehmen musste. Unverheiratet, leicht schwerhörig und in sich verschlossen, begann er nach Jans Tod seine Schwester zu bedrängen, durch eine standesgemäße Heirat den Fortbestand des Geschlechts und der Besitztümer zu sichern.
Bewundert und gefürchtet
Doch Sidonie stand der Sinn nicht nach Familiengründung. Anders als ihre beiden Brüder hatte sie zwar keine formale Bildung erhalten, doch war sie durch Hauslehrer und später durch ihren Bruder Jan und Freunde in die europäische Literatur und Kultur eingeführt und in mehreren Sprachen zu Hause (ihr Tagebuch führte sie abwechselnd in Deutsch und Englisch). Auf ausgedehnten Reisen hatte sie sich gründlich mit der bildenden Kunst in Europa bekanntgemacht. Ihren Landsmann aus Prag und inzwischen gefeierten Dichter Rainer Maria Rilke hatte sie 1906, bei einer ihrer Bildungsreisen, in Paris in Auguste Rodins Atelier kennengelernt, als dessen Sekretär Rilke damals arbeitete. Seither pflegte sie mit ihm einen intensiven freundschaftlichen Austausch, von dem der weitgehend erhaltene umfangreiche Briefwechsel zeugt.
Und nun saß in Wien unverhofft Karl Kraus vor ihr, der ebenso bewunderte wie gefürchtete Satiriker, inzwischen alleiniger Verfasser der „Fackel“, der scharfsichtige, wortgewaltige, beißende und unerbittliche Sezierer und Ankläger aller, auch vermeintlicher, Dummheit und Verkommenheit in Wien, Österreich und darüber hinaus. Kraus, der seiner „Fackel“ 1899 „kein tönendes Was wir bringen, aber ein ehrliches Was wir umbringen“ als Leitwort mit auf den Weg gegeben hatte – und der sich daran hielt. Aber anders als seinem Ruf entsprechend, erschien er ihr teilnehmend, gefühlvoll, liebenswürdig, ja wehrlos. Was Sidonie aber am meisten verblüffte: Kraus erinnerte sie in vielem an ihren verstorbenen Bruder Jan, sowohl durch sein Äußeres, seine Bewegungen und Gestik, als auch durch sein Einfühlungsvermögen, sein unmittelbares Verstehen ihres Wesens und ihrer Wünsche. Noch lange nach Kraus’ Tod erinnerte sie sich daran, wie rasch er erfasste, was für ein Mensch ihr Bruder Jan war, geradezu als ob er ihn gekannt hätte.
Ewiges Ringen
Die Höhen und Tiefen der Beziehung spiegeln sich wider in den über tausend Briefen und Karten, die Kraus an Sidonie geschrieben hat; seit 1974 sind sie der Öffentlichkeit zugänglich. Sidonies Entgegnungen sind bis auf einige nichtssagende Ansichtskarten verschollen. Wenigstens geben uns manche Eintragungen in ihr Tagebuch Aufschluss über ihr Ringen mit einem Mann, dessen maßlose Liebe sie zu ersticken drohte, zu dem es sie jedoch immer wieder hinzog. In den Jahren 1913 bis 1918 notierte sie zum Beispiel: „K.K. steckt in meinem Blut, er macht mich leiden.“ – „K.K. hat mir ein neues Reich eröffnet, neue Möglichkeiten. Wie wunderbar hatte er das getan.“ – „Ich kannte nie ein so direktes Herz, einen so wahrhaften Charakter. K.K. ist der Ruhm und die Krone meines Lebens.“ Wir lesen jedoch auch: „… ich wünschte, er würde mich weniger lieben.“ – „… es muss zu einer Trennung kommen … je mehr seine Liebe wächst, umso weniger kann ich mich zurückziehen.“ – „K.K. lastet auf meinem Leben.“ – „Mit K.K. bin ich fertig … Ich fühle, als wäre all das Liebesfieber … für immer vorbei.“
Nun, sie wurde nie „fertig mit K.K.“. Zweimal versuchte sie in eine „standesgemäße“ Ehe zu flüchten, wie von ihrem Bruder verlangt. Im Mai 1915 wurde die Hochzeit mit einem italienischen Grafen kurzfristig abgesagt, weil – so die offizielle Begründung – der Kriegseintritt Italiens die Vermählung verhinderte. Gleich anschließend reisten Kraus und Sidonie fünf Wochen glücklich durch die Schweiz. 1920 heiratete Sidonie zwar Max Thun (der sie Kraus vorgestellt hatte), aber noch im selben Jahr brach diese Ehe auseinander: Weihnachten feierte Kraus mit seiner „Braut vor Gott“, wie er sie nannte, gemeinsam in Wien. Aber erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erreichte die Beziehung der beiden ruhigeres Fahrwasser, das bis zu Kraus’ Tod im Juni 1936 anhielt.
Unaufführbares Stück
Im November 1913 besuchte Kraus erstmals Schloss Janowitz, danach bis 1936 ungezählte Male, in der wärmeren Jahreszeit oft für mehrere Wochen, sonst meist für nur einen oder wenige Tage. Schloss und Park waren für ihn eine „Insel“. Dort entstand ein beträchtlicher Teil seines Werkes, insbesondere während des Ersten Weltkriegs das große Drama „Die letzten Tage der Menschheit“, laut Otakar Fischer, dem bekannten Prager Germanisten und Goethe-Übersetzer, „die rücksichtsloseste Abrechnung mit den Habsburgern und Hohenzollern, die je geschrieben wurde“. Das Drama war im Theater praktisch unaufführbar; Kraus trug jedoch Teile daraus bei seinen zahlreichen Vorlesungsabenden in Wien, in Berlin und München, aber auch in Böhmen vor, vor allem den Schlussakt „Die letzte Nacht“. 1923 kam es hierüber in Prag zum Skandal, als die Direktion des Deutschen Theaters die geplanten drei Vorlesungsabende wegen „unüberwindlicher politischer Widerstände“ absetzte. Die alldeutsche „Bohemia“ hatte Kraus als deutsch-feindlichen Autoren angeprangert und von der Veranstaltung dringend abgeraten, da sie das „Empfinden des deutschen Volkes“ verletze; ergänzend wurde mündlich die mögliche Demolierung der Theaterräume durch deutschnationale Studenten in Aussicht gestellt.
Die Begegnung mit Sidonie weckte in dem unermüdlich und scharfzüngig kämpfenden Satiriker Kraus auch einen feinfühligen, zartester Töne fähigen Lyriker. Das Gedicht „Wiese im Park“, von dem eingangs die ersten beiden Strophen wiedergegeben sind, ist eines der vielen Gedichte, die an diesem Ort entstanden sind, viele davon Sidonie, dem Schloss und dem Park gewidmet. Janowitz wurde mit seinen Ländereien während der Nazi-Okkupation von der SS besetzt, nach dem Krieg verlor Sidonie ihren Besitz durch Enteignung, das Inventar kam größtenteils unter den Hammer, der Rest fiel Plünderungen anheim. Sidonie verließ 1949 über die grüne Grenze das Land und emigrierte nach England, wo sie, 64-jährig, Ende September 1950 an Lungenkrebs starb. Die Strapazen der Flucht, die Verarmung und der unaufhörliche Tabakkonsum forderten ihren Tribut. Heute sind Schloss und Park wieder hergerichtet, am Rande der „Wiese im Park“ kann man wieder den steinernen Kraus-Tisch betrachten.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?