Macht und Ohnmacht
Das Prager Theaterfestival deutscher Sprache bringt viel Prominenz und brisante Stoffe auf die Bühnen der Hauptstadt
15. 11. 2019 - Text: Greta Marie Herzig, Titelbild: Ilja Mess (Szene aus „Identität Europa“ - Nationaltheater Weimar)
Beim diesjährigen Prager Theaterfestival deutscher Sprache stellen sich klassische und moderne Stücke den Fragen der Zeit. Sie behandeln das menschliche Leben, gesetzt zwischen individueller Entscheidung und Vorgabe der größeren Strukturen. Das vom 16. November bis zum 3. Dezember stattfindende Kulturereignis bringt zum 24. Mal deutschsprachige Inszenierungen auf die Bühnen der tschechischen Hauptstadt.
Große deutschsprachige Häuser wie das Volkstheater Wien, die Müchner Kammerspiele, das Thalia-Theater Hamburg, das Maxim-Gorki-Theater und das Schauspielhaus Bochum setzen sich mit Themen wie Klimawandel und Geschlechterkampf auseinander. Insgesamt neun Inszenierungen beleuchten sowohl Hochgefühle der Macht als auch einsame Momente der Ohnmacht. Passend dazu steht das Theaterfestival unter dem Motto „Macht ─ Ohnmacht“ („Moc ─ Bezmoc“).
Das Deutsche Theater Berlin eröffnet das Festival mit Molières 350 Jahre alter Komödie „Der Menschenfeind“ (16.11.). Regisseurin Anne Lenk beschäftigt sich in ihrem Stück mit dem ewigen Kampf zwischen menschlichen Schwächen und moralischem Anspruch. In Heinrich von Kleists „Penthesilea“ (3.12.), prominent besetzt mit Sandra Hüller, der dank „Toni Erdmann“ der internationale Durchbruch als Filmschauspielerin gelang, und Jens Harzer, seit März Träger des Iffland-Rings, werden vor allem Geschlechterfragen behandelt. Für seine Inszenierung wurde Regisseur Johan Simons von den Kritikern gefeiert und Hüller für ihre Darstellung der Pentesilea zum dritten Mal zur „Schauspieler in des Jahres“ gewählt.
Das Maxim-Gorki-Theater Berlin hat mit Erich Maria Remarques „Die Nacht in Lissabon“ (30.11., 1.12.) einen weiteren Klassiker mitgebracht, der ebenfalls im Rahmen des Zeitgeists interpretiert wird. Hakan Savaş Mican bringt mit dem Stück über ein fliehendes Liebespaar aktuelle Gedanken zu Flucht und Migration auf die Bühne. Untermalt wird die Inszenierung durch eine vierköpfige Liveband und eine Videoprojektion.
„König Ottokars Glück und Ende“ (24.11.) stellt ein weiteres historisches Stück im Programm dar. Grillparzers theatralischer Beitrag zur österreichischen Identitässtiftung verletzte bei seiner Veröffentlichung den damaligen böhmischen Patriotismus. Mit Dušan David Pařízek wird das österreichische Volksdrama nicht nur zum ersten Mal unter tschechischer Regie aufgeführt, auch die Hauptrolle ist mit Karel Dobrý tschechisch besetzt. Er bringe „eine mitreißende Energie auf die Bühne, er spricht zweieinhalb Stunden deutsch, und das noch mit vollem emotionalen Einsatz und auch voller unterhaltsamer Ironie“ („Lidové noviny“).
Der diesjährige Josef-Balvín-Preis ging an das Regie-Tandem Kristýna Jankovcová und Adam Svozil. Die beiden brachten Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“ (25.11.) auf die Kammerbühne Arena in Ostrava und nutzen das Stück, um sich mit Bequemlichkeit und politischer Schlaffheit auseinanderzusetzen. Die Jury lobte sie für den Verzicht von „großtuerischen Gesten“ in ihrer Warnung vor „Alltagsfaschismus“.
Der Chefdramaturg des Prager Theaterfestivals, Petr Štědroň, weist besonders auf das Stück „Dancer in the Dark“ (23.11., 24.11.) hin. Bastian Kraft adaptierte den Film des Skandalregisseurs Lars von Trier für das Hamburger Thalia-Theater in einem Stück, in dem sich die Protagonistin als liebende Mutter mit einer radikal egoistischen Welt konfrontiert sieht und Geld das zentrale Mittel zur Macht darstellt. Der NDR urteilte: „Es ist vielleicht der erschütterndste Theatermoment der letzten Monate!“
Die kapitalistische Logik wird auch in Bezug auf den ewigen Fortschrittsgedanken aufgegriffen, wenn in „Girl from the Fog Machine Factory“ (18.11., 19.11.) die Geschäfte einer Nebelmaschinenfabrik schlecht laufen, da ihre Produkte nicht mehr benötigt werden. Der Schweizer Regisseur Thom Luz fängt durch Kunstnebel die menschliche Machtlosigkeit gegenüber der Flüchtigkeit des Lebens ein. Seine Aufführung wurde beim Berliner Theatertreffen als eine der zehn besten deutschsprachigen Inszenierungen gefeiert.
Der Grundtenor von Macht und Ohnmacht findet sich auch im Stück „Farm Fatale“ (26.11., 27.11.), in dem die menschliche Ausbeutung der Erde und unsere Einstellungen dazu thematisiert werden. Die Inszenierung der Münchner Kammerspiele zeichnet mit Humor eine düstere Utopie. Die Menschheit wurde hierin durch kreativere Vogelscheuchen ersetzt, denen als autonome, solidarische Gemeinschaft eine bessere Welt zugänglich wird. So entsteht ein dringlicher, zeitgemäßer Appell an unser Gewissen. Dem Regisseur attestiert die „Süddeutsche Zeitung“: „Philippe Quesne ist ein Zauberer.“
Ähnlich aktuelle Fragen stellt sich das grenzüberschreitende Projekt „Identität Europa“ (26.11.), das den Zustand des Kontinents mit acht Monologen von acht Autoren und Autorinnen reflektiert. Es werden Fragen wie die Fluchtdebatte, zur richtigen Regierungsform, dem Brexit und aufkeimendem Faschismus in Italien, Polen und Ungarn aufgeworfen. Die Betrachtung Europas aus verschiedenen Perspektiven gilt als Versuch des Festivals, neue Projekte zu unterstützen.
Das Off-Programm ermöglicht mit mehreren Aktionen alternative Zugänge zum Thema der Veranstaltung und zur Theaterarbeit. So werden unter anderem mit dem Dokumentationsfilm „Die Burg“ (25.11.) Einblicke in die Arbeitsabläufe des weltbekannten Wiener Burgtheaters ermöglicht. Wer der tschechischen Sprache mächtig ist, kann seine Vorstellungskraft mit Unterhaltung für die Ohren schulen. So wird das Eröffnungsstück vom Tschechischen Rundfunk Vltava übertragen; die deutsche Autorin Katharina Schmitt inszeniert als akustische, virtuelle Realität das Hörspiel „Der Adelaide Carpenter Gedächtnisflügel“ (2.12.). Besonders ist dabei die eingesetzte binaurale Technik, die es ermöglicht, Stimmen und Geräusche räumlich und plastisch zu hören.
Prager Theaterfestival deutscher Sprache, 16. November bis 3. Dezember 2019, www.theater.cz
GEWINNSPIEL
Theaterregisseur Dušan David Pařízek gründete nach seinem Studium an der LMU München und der DAMU in Prag das Ensemble „Pražské komorní divadlo“ („Prager Kammertheater“). Gleichzeitig leitete er eine Spielstätte, in der auch regelmäßig Stücke des Prager Theaterfestivals aufgeführt werden. Unsere Frage lautet nun: Wie heißt dieses Theater in der Prager Neustadt?
Schicken Sie die richtige Lösung mit Ihrer Anschrift an gewinnspiel@pragerzeitung.cz.
Unter allen Einsendungen verlosen wir jeweils zwei Eintrittskarten für „Girl from the Fog Machine Factory“ (Dienstag, 19.11.), „Farm Fatale“ (Dienstag, 26.11.) und „Identität Europa“ (Dienstag, 26.11). Bitte geben Sie an, welche Vorstellung Sie besuchen möchten. Der Einsendeschlus ist Sonntag, 17. November.
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