Mehr als Bierkultur
In der einstigen „Welthopfenhauptstadt“ Saaz treffen deutsche, jüdische und tschechische Geschichte aufeinander
28. 8. 2014 - Text: Peter Münch-HeubnerText: Peter Münch-Heubner; Foto: APZ
Immer Anfang September, am Ende der Hopfenernte, lockt Dočesná, das Hopfenfest von Žatec, Menschen aus ganz Tschechien und aus dem Ausland in die Stadt an der Eger. Dann wird das frühere Saaz zum Schauplatz eines Volksfestes, das von Fremdenführern in seiner Bedeutung gerne mit dem Münchener Oktoberfest verglichen wird. Doch anders als in München spielt beim Saazer Hopfenfest neben der Folklore auch die Kultur eine Rolle, treten auf der Hauptbühne auf dem Marktplatz neben Blasmusikkapellen wie in den vergangenen Jahren auch Mitglieder der Tschechischen Philharmonie auf. Das Programm auf den vielen Podien in der Stadt ist breit gestreut, reicht von Country- über Rock- bis hin zur U-Musik. Dass da auch schon eine Legende der tschechischen Musikszene wie Helena Vondráčková zu Gast war, unterstreicht die Popularität von Dočesná im ganzen Land.
Wer dann noch am späten Abend durch die Altstadtgassen wandert, der kann in die Geschichte der Stadt eintauchen. Es ist die Geschichte von Tschechen, Deutschen und Juden und sie spiegelt die Wechselfälle böhmischer Geschichte wider. Sie steht für deren dunkle Seiten ebenso wie für ihre großen Kapitel. Auch das Hopfenfest mit seiner langen Tradition tut dies: Als „Hopfenkranzfest“ stellte es früher den heiteren Höhepunkt im Leben der Bürger der Stadt dar, egal welche Sprache sie sprachen. Es verweist auf die Brautradition in der Region, die bis in das 13. Jahrhundert zurückgeht. Im 19. Jahrhundert galt Saaz als „Welthopfenhauptstadt“. 1933 dann aber missbrauchte Konrad Henlein, der sich gern als „Statthalter des Führers“ in Böhmen bezeichnete, den Festplatz als Bühne für seinen „völkischen“ Propagandaauftritt. Nach Anschluss der Sudetengebiete an das Dritte Reich wurde das Fest verboten, weil es keine „arischen“ Wurzeln hatte. Nach dem Krieg instrumentalisierten die kommunistischen Machthaber Dočesná in ihrem Sinne. Nun ist es wieder das, was es ursprünglich war, einfach nur ein Fest und eine Attraktion für Besucher, die von auswärts kommen.
Heute ist es, für diese Besucher eher ungewöhnlich, ein Biermuseum, das sie neben einem Regionalmuseum durch die Stadtgeschichte führt. Der Hopfen ist immer noch ein Wirtschaftsfaktor in der Region, wenngleich auch nicht mehr von so zentraler Bedeutung wie in der Vergangenheit. Häufig wird darauf verwiesen, dass sich das hier gebraute Bier deutlich von der internationalen Massenproduktion unterscheide. Die Traditionsbrauerei Žatec allerdings, die 1801 als „Bürgerbrauerei“ gegründet wurde, ist jetzt in den Mehrheitsbesitz des dänischen Bierkonzerns Carlsberg übergegangen.
Doch Žatec ist mehr als nur „Bierkultur“. Die historischen Sehenswürdigkeiten umfassen das Rathaus, die Stadttore, die Stadtbefestigung, die Kirchen, das Stadttheater, den Ringplatz, die Synagoge und die vielen alten Bürgerhäuser in der Altstadt sowie in Vierteln wie der Oberen und der Unteren Vorstadt.
Zu den berühmten Persönlichkeiten, die hier wirkten, gehört Johannes von Saaz, der am Beginn des 15. Jahrhunderts sein bekanntes Werk „Der Ackermann aus Böhmen“ schuf. Johannes von Nepomuk besuchte die Lateinschule am Ort, die zum ersten Mal zu Beginn des 13. Jahrhunderts in den Quellen erwähnt wird. 1389 wurde der spätere Landespatron Böhmens und Bayerns Archidiakon von Saaz, bevor er noch im selben Jahr als Generalvikar nach Prag berufen wurde.
Saaz war zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrhundert „Königsstadt“. Das bedeutete die Gewährung von Privilegien, einer eigenständigen Gerichtsbarkeit sowie von Bürgerrechten, von denen die Landbewohner noch lange Zeit ausgeschlossen blieben. Die Könige Přemysl Otakar I., Václav I. und Přemysl Otakar II. hatten im 13. Jahrhundert die Geschichte Böhmens in jene Bahnen gelenkt, die das spätere Schicksal des Landes bestimmen sollten. Schon seit dem 12. Jahrhundert waren bayerische, fränkische und sächsische Siedler in die südlichen, westlichen und nördlichen Grenzregionen des Königreichs der Přemysliden gezogen. Nach 1200 warben die Herrscher in Prag im Zuge des geplanten „Landesausbaus“ deutsche Bauern, Handwerker und Händler für die dünnbesiedelten Regionen gezielt an. 1266 wurden den Neusiedlern, die nun auch nach Saaz gekommen waren, als „Freien“ Sonderrechte zugestanden. In der Stadt, die 500 Jahre zuvor eine slawische Gründung mit dem Namen Lučko gewesen war, wuchs eine deutsche Bevölkerungsmehrheit heran. Als Datum der ersten urkundlichen Erwähnung aber gilt das Jahr 1004, weswegen man 2004 eine Millennium-Feier beging.
Dieses Saaz sollte eine Stadt bleiben, deren Werden und Wachsen Deutsche und Tschechen in wechselseitigem Zusammenspiel bestimmen sollten – im Miteinander, aber auch schon bald im Gegeneinander.
Drei Böhmen
Ein umfangreiches Gewerbewesen entwickelte sich unter deutscher Ansiedlung. Dann kamen die Hussiten, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Böhmen teilweise unter ihre Herrschaft bringen konnten. Diese Hussiten waren, wie der Osteuropa-Historiker Manfred Alexander betont, „keine rein tschechische Bewegung“. Auch Deutsche, unter ihnen Priester, hingen deren religiösen, theologischen sowie sozialen Ideen an. Das war auch in Saaz so. Gefordert wurde die Mitbestimmung der unteren Bevölkerungsschichten in den Ratsversammlungen des Landes. In vielen Städten Böhmens standen sich katholische deutschsprachige Ratsherren und sozial schwächere tschechische Unterschichten gegenüber. Deutsche katholische Familien verließen Saaz, das nach 1415 zur „Sonne der Hussiten“, zu einer mehrheitlich tschechischen Stadt, zu Žatec wurde.
Der Sprachwissenschaftler Alfred Klepsch verweist jedoch darauf, dass deutsche Hussiten in Žatec verblieben, in deren Kreis eine Assimilierung einsetzte. So wurde aus dem Bürgermeister „Meister Peter“ in den Ratsprotokollen „Petr Němec“, wobei dessen neuer tschechischer Familienname immer noch auf seine deutsche Herkunft verwies.
Ratsprotokolle in deutscher Sprache finden sich in den Archiven, so die Ergebnisse der Untersuchungen von Klepsch, erst im „frühen 18. Jahrhundert“ wieder. Die Auswertung der Bürgermatrikel zeigt, dass ein erneuter und umfangreicher „Zuzug von Neubürgern mit deutschen Namen“ nach 1750 einsetzt. Klepsch schätzt, dass das „Saazer Land“ an der „Wende des 18. zum 19. Jahrhundert“ wieder eine mehrheitlich deutsch besiedelte Region war.
Die Existenz vieler Lehnwörter aus dem Tschechischen im ostfränkischen Saazer Dialekt zeugt indes von einer kulturellen Vermischung. Als Saazer Bürger mit rein tschechischer Muttersprache stuften sich im Jahr 1910 allerdings nur noch 2,6 Prozent der Einwohner ein. Bis zur Volkszählung 1930 sollte dieser Anteil wieder steigen, 3.156 von insgesamt 18.100 Einwohnern ließen sich dann als Tschechen registrieren.
Saaz war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Industriegebiet geworden. Rasch entwickelten sich Werke der unterschiedlichsten Produktionszweige. Generell verzeichnete das deutsch-böhmische Wirtschaftsgebiet nun einen Zuzug von Arbeitskräften aus dem tschechischen Kernland, der auch nach Gründung der Tschechoslowakei 1918 anhielt. Die beiden Böhmen waren nie vollkommen voneinander zu trennen.
Es gab aber auch noch das dritte Böhmen: 1930 umfasste die jüdische Gemeinde von Saaz 944 Angehörige. Wissenschaftliche Studien gehen jedoch davon aus, dass rund 10 Prozent der Bürger jüdischer Herkunft waren – die Zahl der „assimilierten Juden“ mit eingerechnet. 1939 wurden nur noch 25 von ihnen gezählt.
Am 8. November vorigen Jahres gedachte man in Žatec des 75. Jahrestages der Reichskristallnacht. Ort des Mahnaktes war die Synagoge in der Langen Gasse (Dlouhá), deren Inneneinrichtung in dieser Nacht ausbrannte. 2010 bereits wurde im Regionalmuseum eine Ausstellung eröffnet, die durch die Geschichte der Juden von Saaz führt. Deren Gemeinde wurde im Jahre 1350 erstmals in den Quellen erwähnt.
Das Projekt „Die Juden von Saaz“ ist Bestandteil einer tschechisch-deutsch-jüdischen Zusammenarbeit, die unter dem Titel „Saazer Weg“ steht. Vorbereitet wurde die Ausstellung von der Jüdischen Gemeinde von Teplice, vom „Förderverein der Stadt Saaz/Žatec“ (Frankfurt am Main), vom Heimatkreis Saaz (Roth) sowie aus dem heutigen Žatec von der „Vereinigung der Landsleute und Freunde der Stadt Žatec“. Der „Saazer Weg“ umfasst viele Initiativen.
„Die den Saazer Weg gehen wollen“, so beschreibt es der Förderverein, „sind überzeugt: Ohne Erinnerung kann es keine Versöhnung geben, aber ewige Vorwürfe führen auch nicht zum Ziel.“ Man wolle miteinander aus der „Vergangenheit und ihren schrecklichen Ereignissen“ lernen, um „der gemeinsamen Zukunft von Tschechen und Deutschen im europäischen Haus“ ein neues und solides Fundament zu geben.
Dunkle Kapitel
Die „schrecklichen Ereignisse“ aber haben das Bewusstsein von Tschechen und Deutschen zutiefst geprägt. Das wissen auch Otokar Löbl und Petr Šimáček, die Vorsitzenden des Fördervereins und der „rodáci“ (Landsleute). Da steht auf der einen Seite der Massenmord von Postelberg, begangen von der Division unter General Španiel an der männlichen deutschen Bevölkerung von Saaz im Juni 1945. Und auf der anderen Seite ist Lidice bis heute der Ort, der an die vielen NS-Verbrechen, begangen an tschechischen Zivilisten, an Männern, Frauen und auch Kindern, erinnert.
Weil sich der Förderverein und die rodáci gemeinsam dafür engagierten, wurde im Juni 2010 eine Gedenktafel für die Opfer von Postelberg eingeweiht. Der Förderverein organisierte 2012 in Deutschland eine Wanderausstellung mit dem Titel „Die wilde Vertreibung der Deutschen in Nordböhmen 1945“. Lidice und andere NS-Gewalttaten blieben hier bewusst nicht unerwähnt.
Doch es gibt nicht nur diese dunklen Kapitel in der Geschichte. Löbl und Šimáček planen ein „Johannes-von-Saaz-Museum“ in Žatec, das „das Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden“ in der Stadt auch im friedlichen Miteinander dokumentieren soll. In die wechselvolle Stadtgeschichte miteinzubeziehen wären in der neueren Zeit aber auch jene Neubürger, die nach der Vertreibung der Sudetendeutschen hier ansiedelten – oder auch angesiedelt wurden – und die aus dem tschechischen Kernland, aus Mähren und der Slowakei kamen oder die Roma, die hierher zogen und nach dem NS-Terror kommunistischen Repressalien ausgesetzt waren.
Geschichte ist in der Gegenwart präsent, sie soll aber nicht nur im neuen Museum in der Zukunft vor allen Dingen eines: zusammenführen. So sagte Löbl im Jahr 2010 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Die Juden von Saaz“ in einem Gespräch mit der Tageszeitung „MF Dnes“: „Das Geschehene und die Mordtaten kann man nicht mehr (…) rückgängig machen (…) Es ist aber möglich, sich gegenseitig zu verzeihen (…) und vor einer Wiederholung der früheren Taten zu warnen.“
Gefeiert wurde der Erfolg der Ausstellung im „Tempel des Hopfens und des Bieres“. Martin Komárek schrieb dazu kritisch, dass hier „blutige Geschichte sich in leutselige Bieratmosphäre aufgelöst hat“. Doch Otokar Löbl, der selbst einer Saazer Familie mit jüdischen Wurzeln entstammt, die 1970 nach dem Prager Frühling die „Heimatstadt“ verließ, hatte keine Probleme mit diesem Umtrunk. Er ist bekennender Bierliebhaber. Und die Geschichte der Juden der Stadt ist eng mit der hiesigen „Bierkultur“ verbunden: Die „Saazer Hopfenjuden“ haben in der Vergangenheit zum Aufstieg dieses Wirtschaftszweigs in der Region viel beigetragen.
In der Geschichte Stärke suchen für Gegenwart und Zukunft, das ist in Anlehnung an den Historiker František Šmahel Löbls Motto. Die Geschichte von Žatec/Saaz bietet hierzu viele Ansätze.
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