„Mein Instrument ist ein großer Segen für mich“
Die Geige von Carolin Widmann ist über 230 Jahre alt. Manchmal fragt sich die Violinistin, ob schon Mozart sie in den Händen gehalten hat
3. 9. 2015 - Text: Stefan WelzelInterview: Stefan Welzel; Foto: KassKara
Carolin Widmann wird von Kritikern als Ausnahmeviolinistin gefeiert. Die gebürtige Münchnerin arbeitete unter anderem mit Pierre Boulez, Sasha Waltz, Sir Simon Rattle und Christoph von Dohányi zusammen. Ihren künstlerischen Fokus legt Widmann auf die Interpretation moderner Klassik, sie zählt aber auch ältere Werke zu ihrem Repertoire. Am 12. September spielt Widmann im Rahmen des Festivals „Dvořákova Praha“ („Dvořáks Prag“) an der Seite des Philharmonia Orchestra aus London im Rudolfinum. PZ-Redakteur Stefan Welzel sprach mit der 39-Jährigen über Tendenzen in der modernen Klassik, ihre Beziehung zu Prag und die Schattenseiten der künstlerischen Freiheit.
Frau Widmann, Sie haben eine besondere Vorliebe für Alban Bergs Violinkonzert, das Sie auch in Prag spielen werden. Was fasziniert Sie an dem Stück?
Carolin Widmann: Es ist vielleicht das letzte große klassische Meisterwerk, das gleichzeitig schon in die Moderne weist. Berg kombinierte klassische Techniken, zum Beispiel aus der Romantik, mit der damals total modernistischen, seriellen Zwölftontechnik. Er war aus meiner Sicht der genialste Komponist seiner Zeit. Berg gelang es, seine Musik emotional derart aufzuladen, dass man gar nicht mehr merkte, wie durchdacht und konstruiert sie war.
Vermissen Sie als Verfechterin der modernen Klassik mehr zeitgenössische Werke in den Konzerthäusern der Welt?
Widmann: Die Moderne ist definitiv im Kommen. Das Problem: Ihre Werke stehen zwar immer häufiger auf den Programmen, das Publikum weiß sie aber noch nicht so zu schätzen wie die alten Klassiker. Aber auch da gibt es unterschiedliche Reaktionen. Das Violinkonzert von Berg ist zum Beispiel weltweit längst anerkannt.
Sie arbeiten intensiv mit zeitgenössischen Komponisten zusammen, die eigens Stücke für Sie schreiben. Wie sieht diese Kooperation aus?
Widmann: Es gibt Komponisten, die einen intensiven Austausch suchen, wie Mark Andre oder Rebecca Saunders. In solchen Fällen kann man von einer Kooperation sprechen. Andere wollen sich lieber nur ein paar Aufnahmen von mir anhören und mit mir einen Kaffee trinken gehen, um sich dann zum Komponieren in ihr Zimmer zurückzuziehen.
Welche Entwicklung nimmt die zeitgenössische Klassik aktuell?
Widmann: Wir leben in einer sehr seltsamen, aber auch großartigen Zeit. Der künstlerische Dogmatismus ist Vergangenheit. Es existiert nichts mehr, woran sich die jungen Komponisten zwingend halten müssen. In den siebziger und achtziger Jahren gab es – zumindest in Deutschland – Bewegungen in Donaueschingen oder Darmstadt, die Zentren der modernen Musik waren und die eine Ästhetik der Musik vorgegeben haben. Heute haben wir das nicht mehr. Wolfgang Rihm zum Beispiel schreibt wieder tonale Werke. Auf der anderen Seite steht der bereits erwähnte Mark Andre, der fast nur noch Geräuschkulissen erzeugt. Oder es kommen Strömungen auf, die sich mit elektronischer Musik in Klubs und mit DJs arrangieren. Es existiert eine nie dagewesene Freiheit und Vielfalt. Das kann man durchaus als Chance verstehen, es birgt aber auch Risiken.
Zum Beispiel?
Widmann: Die Freiheit ist einerseits befreiend, andererseits findet eine starke Fragmentierung der Szene statt, die es Talenten kaum ermöglicht, kommerziell erfolgreich zu sein und von ihrer Kunst zu leben. Das ist die Schattenseite der unzähligen Möglichkeiten. Es gibt so viele kleine Strömungen.
Sie haben unter anderem mit der Choreografin Sasha Waltz zusammengearbeitet, zeigen sich offen für genreübergreifende Symbiosen zwischen Klassik und Tanz, Video und anderen visuellen Darstellungsformen. Ist das die Zukunft der Klassik?
Widmann: Mich interessieren Tanz, Literatur und Bildende Kunst ungemein. Es gibt so viele Möglichkeiten, den Höreindruck visuell zu verstärken. Das Tanzprojekt mit Sasha Waltz hat mir gezeigt, wie viel man sich gegenseitig geben kann. Die klassische Konzertform – also Orchester rauf auf die Bühne, verbeugen, spielen – das ist nicht die einzige Variante, Musik aufzuführen und zu konsumieren. In Frankfurt habe ich zum Beispiel musikalische Programme für Kunstwerke zusammengestellt. Einen Raum mit Beuys-Installationen ließ ich mit Werken von Johannes Brahms, Anton Webern und George Crumb bespielen.
Wenden wir uns Tschechien zu. Kenner der Klassik- und Opernszene behaupten, das Land sei musikalisch eher konservativ. Wie haben Sie das bei Ihren Auftritten hier erlebt?
Widmann: Ich habe bereits vor drei Jahren mit der Tschechischen Philharmonie zusammengearbeitet und ausgerechnet dabei ein sehr modernes Werk von Wolfgang Rihm interpretiert. Und tatsächlich habe ich zu Beginn einiges Misstrauen aus den Reihen des Orchesters gespürt. Später merkten die Ensemblemitglieder, dass die Musik einen engen Bezug zur Spätromantik hatte. Als das Orchester dies erkannte, begann das Eis zu brechen. Aber ja, in vielen Teilen Osteuropas herrscht ein eher konservatives Klima, ausgenommen von einigen Strömung in Russland.
Und was ist in Russland anders?
Widmann: Die Szene in Russland ist sehr offen gegenüber Neuem. Das schließt das Publikum mit ein. Das Diagilew-Festival in Perm ist ein gutes Beispiel. Dort stehen viele junge und moderne Komponisten auf dem Programm und die Zuschauer sind begeistert.
Welche tschechischen Komponisten liegen Ihnen besonders am Herzen?
Widmann: Antonín Dvořák und Leoš Janáček. Das sind für mich die tschechischen Ikonen. Janáček ist einer meiner absoluten Lieblingskomponisten, denn er war ein radikaler Visionär. Ein tschechisches Genie, das man in einem Atemzug mit Kafka nennen kann. Das waren Menschen, die formal völlig neue Wege gingen und dabei alles in Frage stellten. Sie verfolgten die absolute Dekonstruktion, um darauf etwas ganz Neues zu erschaffen. Darin gleichen sich der Komponist Janáček und der Schriftsteller Kafka.
Fühlen Sie sich auch deshalb Prag verbunden?
Widmann: Die Stadt berührt mich auf eine besondere Art. Vielleicht hat das auch etwas mit der engen deutsch-tschechischen Geschichte zu tun. Es gibt in Prag so viel, was man bei uns nicht mehr findet. Die Geschichte ist nahezu spürbar. Ich werde immer nostalgisch, wenn ich hier bin.
Apropos Geschichte. Sie spielen auf einer über 230 Jahre alten Violine. Wie geht man mit so einem Erbe um?
Widmann: Das mag etwas seltsam klingen, aber diese Violine ist fast wie ein Lebewesen für mich. Wenn wir nach einem langen Flug irgendwo ankommen, dann braucht das Holz eine Weile, bis es sich an die neuen Bedingungen gewöhnt hat. Zuweilen habe ich dann das Gefühl, dass wir miteinander kommunizieren. Es berührt mich, wenn ich darüber nachdenke, was diese Violine schon alles erlebt hat. Sie wurde um 1780 in Italien gebaut, als Mozart gerade vor Ort war. Ich stelle mir dann immer vor, dass er dem Instrument einmal begegnet ist. Das ist faszinierend, und man fühlt sich plötzlich ganz klein. Ich spüre natürlich die Verantwortung, dieses Erbe in gutem Zustand weiterzugeben. Aber zu sehr darf ich darüber gar nicht nachdenken, sonst kann ich nachts nicht mehr einschlafen.
Wie sehen Ihre Übungseinheiten aus? Sie sagen, das sei die schönste Zeit.
Widmann: Der tägliche Dialog mit dem Instrument ist die pure Freude. Da kenne ich keine Motivationsprobleme. Die entstehen eher während der vielen Reisen. Oder durch die nervliche Anspannung bei und vor Konzerten. Das ist viel schlimmer. Dagegen ist die Beschäftigung mit meiner Violine mit der größte Segen in meinem Leben. Ich genieße jede Minute.
Informationen zum Festival „Dvořákova Praha“ unter www.dvorakovapraha.cz
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