Ein warnendes Beispiel
Geschichte

Ein warnendes Beispiel

Vor 200 Jahren leiteten die „Karlsbader Beschlüsse“ eine Phase der politischen und geistigen Repression im Deutschen Bund ein

3. 9. 2019 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Karikatur auf die Karlsbader Beschlüsse vom 20. September 1819: „Der Denker-Club“ (Ausschnitt)

PZ: Es fällt auf, dass mit Ihnen ein Medienwissenschaftler und kein Historiker ein wichtiges Buch über „200 Jahre Karlsbader Beschlüsse“ geschrieben hat – weil durch die Beschlüsse zwar Freiheits- und Grundrechte insgesamt betroffen waren, aber die Presse- und Meinungsfreiheit eben besonders stark eingeschränkt wurde?
Jürgen Wilke: Ja, das Interesse der Publizistikwissenschaft ergibt sich aus der Bedeutung der „Karlsbader Beschlüsse“ für die Geschichte der deutschen Presse. Sie führten zu den bis zum 20. Jahrhundert schärfsten Kontrollmaßnahmen. Aber die Beschlüsse erstreckten sich darüber hinaus auf die Universitäten und die damaligen Verfassungsbestrebungen. Selbstverständlich kommen die „Karlsbader Beschlüsse“ auch in der deutschen Geschichtsschreibung über das 19. Jahrhundert vor. Als ich mein Buch seit dem letzten Jahr geschrieben habe, wusste ich nicht, ob auch Historiker Ähnliches vorhatten. Angesichts von deren nach wie vor beschränktem Interesse an der Presse hielt ich das aber nicht für wahrscheinlich.

Viele Schriftsteller und Professoren wurden aufgrund der „Karlsbader Beschlüsse“ als angebliche Demagogen verfolgt, darunter prominente Namen wie Büchner, Arndt, E. T. A. Hoffmann. War deren Einfluss tatsächlich so groß, dass die Fürsten an den Höfen des Deutschen Bundes gerade sie so sehr fürchten und verbieten mussten?
Tatsächlich wurden die Fürsten an den Höfen des Deutschen Bundes von einer zunehmenden Revolutionsangst erfasst, die gewiss übertrieben war. Anlässe dazu sahen sie in der Turnerschaft, der Studentenbewegung und in der Entstehung einer kritischen und oppositionellen Presse.

Die Pressefreiheit als Greisin in Fesseln. Unter den Zutaten der neuen Presse: Schlaftrunk und Karlsbader Sprudel (Karikatur von 1819).

Haben sich diese Schriftsteller trotzdem noch Gehör auf dann illegalen Wegen verschaffen können – und wurden sie noch gehört?
Versucht wurde das zwar, aber es war doch nur schwer möglich. Das galt sowohl für den Druck als auch die Verbreitung von Schriften. Ein Beispiel ist natürlich der „Hessische Landbote“, die von Büchner und Weidig verfasste Flugschrift. Die Unterdrückung im Inneren zwang nicht wenige Journalisten und Autoren zur Emigration und hatte die Entstehung einer Exilpresse zur Folge.

Mit den „Karlsbader Beschlüssen“ wurden liberale und nationale Bewegungen massiv eingeschränkt, um den Ausbruch einer Revolution zu verhindern. Tatsächlich wurden diese Beschlüsse 30 Jahre später mit der sogenannten Deutschen Revolution 1848/49 einkassiert. War die Angst der Fürsten also 30 Jahre zuvor berechtigt, wie stark gärte es damals tatsächlich in den deutschen Landen?
Die Angst war nicht grundlos, aber doch übertrieben. Man verstand es damals nicht, mit Reformen – wie man heute wahrscheinlich sagen würde – die politischen Systeme an die historisch veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Oder diese schüchternen Versuche wurden gestoppt. Stattdessen setzten die Urheber der „Karlsbader Beschlüsse“ auf Restauration.

Metternich wird eine zensierte Luther-Schrift überreicht, links: die Zensur als Muse des Bundestags (Karikatur von 1842).

Sobald heute autoritär geführte Regime – wie etwa in Polen, Ungarn, Russland oder der Türkei – an die Macht kommen, ist die Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit immer noch eine ihrer ersten Maßnahmen. Ist gerade die Beschneidung der Meinungsfreiheit ein Indiz dafür, dass man die „Karlsbader Beschlüsse“ nicht isoliert für ihre Zeit sehen muss, sondern dass sie auch heute noch als warnendes Beispiel von Bedeutung sind?
Ja, ich habe das Buch geschrieben, um die „Karlsbader Beschlüsse“ in Öffentlichkeit und Wissenschaft wieder in Erinnerung zu bringen. Zwar sind in Deutschland Meinungs- und Pressefreiheit grundgesetzlich gesichert und nicht unmittelbar bedroht. Aber dergleichen ist nie frei von Gefahr. Das zeigt gerade ein Blick über die deutschen Grenzen. Nicht nur in den genannten Ländern, sondern erst recht in anderen Teilen der Welt, die von Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ beobachtet werden.

Dabei streitet die Medienwirkungsforschung seit Jahren darüber, welchen Einfluss Medien tatsächlich auf die Politik und politische Entscheidungen haben. Sind solche Maßnahmen daher übertrieben, wie gefährlich sind Publizisten wirklich?
Metternich [der österreichische Außenminister Klemens Wenzel Lothar von Metternich war die entscheidende Kraft für die Entstehung der „Karlsbader Beschlüsse“, Anm. d. Red.] hatte ein außerordentliches Gespür für Medienwirkung und die Macht der öffentlichen Meinung. Ja, er sah die Presse als „Gewalt“ an! Leider wusste er nicht anders darauf zu antworten als mit Repression. Ihm wird ja positiv angerechnet, welch lange Friedenszeit er mit seiner Politik bewirkte. Man darf aber nicht den Preis übersehen, den die Gesellschaft dafür zahlte.

Die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue diente als Begründung für die Beschlüsse (Kupferstich um 1820).

Eine wesentliche Rolle spielte Anfang des 19. Jahrhunderts der Nationalstaatsgedanke. Die Regenten wollten den uneinheitlichen Deutschen Bund mit meist absolutistisch regierten Staaten nach der napoleonischen Zeit stabilisieren. Die Beschlüsse wurden jedoch unterschiedlich umgesetzt, in Preußen strikter als in Baden. Erschien also nicht allen Fürsten ein Nationalstaat damals gleichermaßen unvorstellbar oder gar gefährlich für ihre Macht?
Der Gedanke an einen Nationalstaat lag den Fürsten nicht nahe, weil sie damit Macht eingebüßt hätten. Aber was die innere Ordnung angeht, gab es Unterschiede. Liberale Bestrebungen führten 1832 in Baden zu dem Versuch, von den „Karlsbader Beschlüssen“ loszukommen. Was Metternich mit Hilfe der Bundesexekutionsordnung, die auch in Karlsbad beschlossen worden war, zu verhindern wusste.

Gravierenden politischen Beschlüssen gehen oft besondere Ereignisse voraus. Für die „Karlsbader Beschlüsse“ waren dies vor allem zwei Attentate von Studenten im März und Juli 1819. Heute hat die Flüchtlingsdebatte Auswirkungen auf Wahlergebnisse in ganz Europa. In Deutschland kommt es sogar zu politisch motivierten Morden, wie durch den NSU oder kürzlich in Kassel. Sehen Sie Parallelen? Könnte es in absehbarer Zeit wieder zu ähnlich rigiden und illiberalen Gesetzen kommen?
Ich sehe noch keine unmittelbaren Gefahren in der unterstellten Richtung. Natürlich sind Morde wie im Fall NSU und wie an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sehr ernste Symptome, worauf eine wehrhafte Demokratie mit Mitteln des Rechtsstaats antworten muss. Es besteht auch die Gefahr, dass sich bestimmte Kräfte auf falsche Analogien berufen. So glaubte sich die AfD bei der Eröffnung des Landtagswahlkampfs in Brandenburg und Sachsen kürzlich als Opfer der Überwachung wie im frühen 19. Jahrhundert stilisieren zu können. Björn Höcke, der „Rechtsaußen“ der Partei, offerierte einem präsumptiven Vertreter des Verfassungsschutzes eine Flasche Sekt „Fürst Metternich“.

Jürgen Wilke ist Professor für Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. | © JGU

Vor den „Karlsbader Beschlüssen“ gab es bilaterale Beratungen zwischen Preußen und Österreich in Teplitz, die dann in Karlsbad gemeinsam mit anderen Staaten in Gesetze gegossen wurden. Warum war gerade das ferne Böhmen der Schauplatz solch wichtiger Konferenzen?
Böhmen war damals ja nicht fern – zumindest von Wien, aber auch von Berlin aus gesehen.

Durch die Einschränkung der bürgerlichen Rechte zogen sich viele Bürger ins Private zurück. Das Hambacher Fest hat im Jahr 1832 nicht wie erhofft mehr Freiheit gebracht, sondern vielmehr zu einer Verschärfung der Maßnahmen geführt. Was folgt daraus für heute: Flagge zeigen?
Auf jeden Fall. Wir haben ja heute eine aktive Demonstrationsgesellschaft.