Metternichs Ultimatum
Der Prager Friedenskongress im Sommer 1813 bahnte den Weg zur Völkerschlacht bei Leipzig
7. 8. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach
Dass nach der endgültigen Niederlage Napoleons auf dem Wiener Kongress 1814/15 die durch seine Maßlosigkeit erschütterte europäische Ordnung unter dem Taktstock des österreichischen Außenministers Metternich wiederhergestellt wurde, das ist fast jedem Schulkind geläufig. Jedenfalls war das früher so, als sich der Unterricht noch nicht so sehr auf die Vermittlung von Kompetenzen, dagegen stärker auf die von Wissen konzentrierte. Aber dass bereits 1813 ein Friedenskongress in Prag getagt haben soll, das löst auch bei historisch versierten Zeitgenossen Nachfragen aus.
Der Grund dafür ist einfach: Der Prager Kongress vom 12. Juli bis 10. August 1813 brachte keinen Frieden, sondern bahnte vielmehr den Weg zur Völkerschlacht bei Leipzig, bei der Napoleon im Oktober 1813 seine entscheidende Niederlage erlitt. Das war, für einen Friedenskongress eigentlich seltsam, der kaum verborgene Hauptzweck der Prager Veranstaltung. In einem Brief an seinen Vater schrieb Metternich, der Spiritus Rector auch dieses Kongresses: „Prag ist nur für die Öffentlichkeit und alles, was sich außerhalb von Prag tut, betrifft das Wesentliche.“ Warum dann überhaupt dieser sogenannte „Friedenskongress“?
Die demütigende Erfahrung seines Russlandfeldzuges wollte und konnte Napoleon nicht als den Schlusspunkt seiner atemberaubenden Karriere annehmen. Er betrachtete sich als Opfer der widrigen russischen Witterung, aber nicht als Besiegter auf den russischen Schlachtfeldern. Noch hielt Napoleon weite Teile Europas besetzt, noch konnte er auf zahlreiche Verbündete zählen. Doch musste er den Glanz seines Sterns auf dem Schlachtfeld erneuern, vor allem die von Osten vorrückende russische Streitmacht schlagen, um behaupten zu können, was er errungen hatte.
Dass er genau dies plante und keine seiner Eroberungen zur Disposition zu stellen gewillt war, teilte er Anfang Januar 1813 dem verbündeten österreichischen Kaiser Franz I., seit 1810 sein Schwiegervater, in einem Schreiben mit. Damit offenbarte er eine Schwäche, die bis weit in den Sommer hinein seinen Blick trüben sollte: Er vertraute darauf, dass die familiäre Bindung das politisch-militärische Bündnis garantiert, er schien blind dafür, dass das Staatsinteresse Vorrang haben muss.
Währenddessen gab es die ersten Anzeichen der beginnenden Absetzbewegung, eine sich national aufladende Begeisterungswelle, das französische Joch loszuwerden. Vor allem in den Rheinbundstaaten und in Preußen regten sich Mut und Lust zur Auflehnung. Theodor Fontane hat in seinem Roman „Vor dem Sturm“ den Widerstreit zwischen, einerseits, Vertragstreue und Treue zum zögerlichen König Friedrich Wilhelm III., und, andererseits, der vaterländisch inspirierten Bevölkerung eindrücklich nachgezeichnet. Ende Februar endlich ließ sich Friedrich Wilhelm, getrieben von der öffentlichen Meinung und seinen Militärs, verlockt auch von vagen Aussichten auf Gebietserweiterungen, zum Vertrag von Kalisch mit Russland bewegen, dessen Artikel 7 Österreich einlud, der neuen Allianz gegen Frankreich beizutreten. England schloss sich Russland und Preußen an und steuerte finanzielle Mittel für Rüstungen und Kriegführung bei.
Für Napoleon wurde es nun höchste Zeit, seinerseits die Initiative zu ergreifen. Am 15. April machte er sich von Paris aus auf den Weg nach Osten, um die verbündeten Armeen Preußens und Russlands niederzuringen und seine Machtstellung zu festigen. Die Armee, die Napoleon nach rascher Aushebung und kurzer Ausbildung zu Gebote stand, ließ jedoch zu wünschen übrig. Das Gros der Truppe bildeten frisch rekrutierte 18- und 19-Jährige, denn von den älteren Jahrgängen waren nur wenige aus Russland zurückgekehrt, und die überlebenden Offiziere größtenteils ausgelaugt und kriegsmüde. Dennoch winkte Napoleon erneut das Kriegsglück: Am 2. Mai bei Lützen und am 20./21. Mai bei Bautzen waren ihm zwei überraschende Siege über die preußisch-russische Allianz gelungen. Es fehlte ihm bloß eine schlagkräftige Kavallerie, um nachzusetzen wie einst und die Siege vollkommen zu machen. Stattdessen schloss Napoleon mit den Alliierten am 4. Juni einen Waffenstillstand bis zum 20. Juli – ein Schritt, den er später auf St. Helena als großen Fehltritt bereute.
Der neuerliche Triumph des Korsen ließ nicht nur Friedrich Wilhelm daran zweifeln, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben; auch für Kaiser Franz war die Hürde, der Einladung von Kalisch zu folgen, nun höher geworden – zusätzlich zu den Skrupeln, sich mit dem Schwiegersohn auch von Tochter und Enkel abzuwenden. Metternich hingegen, der seit Jahresbeginn umsichtig, aber überwiegend noch verdeckt, darauf hinarbeitete, Österreich aus dem Bündnis mit Frankreich zu lösen und in die sich bildende neue Anti-Napoleon-Koalition zu führen, ließ sich nicht beirren. War es letztlich nicht sogar besser, wenn der Wert Österreichs als Koalitionspartner nach den beiden knappen Siegen Napoleons stieg? Metternich wusste um die Bedenken seines Gebieters, sich ohne handfesten Grund unter Vertragsbruch in die Schlachtordnung der Allianz einzureihen. Hier war also die Kunst der Diplomatie gefragt, eine Situation herbeizuführen, die aus der Sicht von Kaiser Franz den Seitenwechsel sowohl vor den Zeitgenossen als auch der Nachwelt legitimiert.
Österreich war im Grunde nicht an einem weiteren Waffengang gelegen. Noch weniger aber konnte es sich mit der beherrschenden Stellung Napoleons in Europa abfinden, die jeglichem hergebrachten Gleichgewicht der Mächte widersprach und nur mit dem Schwert aufrecht zu erhalten war. Österreich wollte den Frieden, freilich einen stabilen Frieden, der dem Habsburgerreich eine unabhängige Position im Konzert der Mächte garantierte. Dazu hätte Napoleon zu erheblichen Konzessionen bereit sein müssen: bis hin zum Rückzug Frankreichs hinter seine natürlichen Grenzen. Metternich hatte in den Jahren 1806 bis 1809 als Gesandter in Paris Gelegenheit, den jetzt zum Gegenspieler gewordenen Napoleon genau zu studieren. Ihm war klar: Mit Konzessionen war nicht zu rechnen – schon gar nicht nach den beiden siegreichen Waffengängen vom Mai.
Es galt also, Napoleon mit Friedensbedingungen zu konfrontieren, die „objektiv“ als maßvoll erschienen, für Napoleon aber unannehmbar waren. Erst, wenn er alle „vernünftigen“ Angebote aus dem Wind schlagen sollte, war Kaiser Franz bereit, sich der Allianz mit seiner bald 180.000 Mann zählenden Armee anzuschließen. Deshalb entfaltete Metternich hektische diplomatische Aktivitäten zwischen einigen nordböhmischen Schlössern, in welchen sich die drei Monarchen im Juni niedergelassen hatten, während Napoleon im nahen Dresden residierte. Kaiser Franz war mit zahlreichem Gefolge am 3. Juni nach Jičín (Jitschin) gelangt, wo er in Wallensteins Schloss, in günstiger Entfernung zu allen Akteuren, seine Zelte aufschlug. Ein Ziel hatte Metternich damit schon erreicht: Österreich war ein von allen Seiten begehrter Partner geworden und schlüpfte immer mehr in die Rolle des bestimmenden Akteurs.
Jičín war auch in anderer Hinsicht günstig gelegen: Metternich hatte nämlich mit der Herzogin Wilhelmine von Sagan (Zaháňská), die das nahegelegene Schloss Ratibořice (Ratiborschitz) besaß, eine Affäre begonnen, wobei Wilhelmine das Wechselspiel von Nähe und Distanz, auch mithilfe ihrer Migräne, meisterhaft einzusetzen wusste. In Tschechien ist die Herzogin aus Božena Němcovás halb autobiographischem Roman „Die Großmutter“ allgemein als „Frau Fürstin“ bekannt.
Die Verhandlungen führten zu den von Metternich gewünschten Friedensbedingungen: 1. Auflösung des Großherzogtums Warschau, 2. entsprechende Vergrößerung Preußens unter Einschluss Danzigs, 3. Unabhängigkeit für die Hansestädte und 4. Rückgabe Illyriens an Habsburg. Weitergehende Bedingungen sollten vorerst in der Hinterhand bleiben. Österreich, Preußen und Russland schlossen am 27. Juni in Reichenbach ein geheimes Abkommen – geheim, weil Österreich als Friedensvermittler nach außen noch Neutralität wahren musste –, das Österreichs Eintritt in die Koalition festschrieb, sollte Napoleon bis zum 20. Juli den genannten Bedingungen nicht zustimmen.
Am 26. Juni kam es in Dresden zu dem berühmten Vieraugengespräch zwischen Napoleon und Metternich von acht bis neun Stunden Dauer, das Metternichs Kalkulationen bestätigte: Napoleon wies die Friedensbedingungen als nicht „ehrenvoll“ zurück; auch nur einen Fußbreit Bodens kampflos zu räumen galt ihm als unehrenhaft. Gemäß Metternichs Aufzeichnungen offenbarte ihm Napoleon das Gesetz seines Handelns, unter dem er einst angetreten und in dem er nun gleichsam gefangen war: „Eure Majestäten, die auf dem Thron geboren sind, halten es aus, zwanzigmal geschlagen zu werden. Jedesmal kehren sie zurück in ihre Hauptstadt. Ich bin nur der Sohn des Glücks. Ich würde von dem Tag an nicht mehr regieren, an dem ich aufhörte, stark zu sein, an dem ich aufhörte, Respekt zu erheischen.“
Einige Tage später, am 30. Juni, hielt Metternich das in den Händen, was Kaiser Franz von ihm erwartete, nämlich Napoleons Zustimmung zur Auflösung des längst Makulatur gewordenen Bündnisses. Ferner einigte er sich mit Napoleon auf eine Verlängerung des Waffenstillstands bis zum 10. August und darauf, bis zu diesem Termin einen Friedenskongress in Prag abzuhalten, beginnend am 12. Juli. Friedrich Wilhelm und Zar Alexander hielten das für Zeitvergeudung, aber sie waren auf Österreich angewiesen und fügten sich schließlich den Vorstellungen von Kaiser Franz.
Prag füllte sich Mitte Juli mit Diplomaten, Spionen, Kurtisanen und Taschendieben, also mit allem Personal, das einen internationalen Kongress belebt oder an ihm verdient, nur der Kongress selbst kam nicht voran. Auf Napoleons Vertrauten und Bevollmächtigten, General Caulaincourt, warteten die anwesenden Vertreter der Allianz gute zwei Wochen vergeblich, bis er endlich am 28. Juli an der Moldau eintraf. Aber seine Vollmachten gingen über Erkundigungen zur Position Österreichs nicht hinaus. Metternich reagierte am 8. August mit einem Ultimatum: Falls Napoleon bis zum 10. August nicht einlenke, erfolge am 11. August Österreichs Beitritt zur Allianz und Kriegserklärung an Frankreich. Zwar antwortete Napoleon mit einem kleinen Zugeständnis, dem Verzicht auf Warschau, aber das war zu wenig und außerdem zu spät, denn die Antwort traf erst am Vormittag des 11. August in Prag ein. Nun mussten die Waffen sprechen, und sie sprachen gut acht Wochen später bei Leipzig eine deutliche Sprache.
Somit endete der „Friedenskongress“, ohne dass überhaupt über den Frieden verhandelt wurde. Nicht einmal zu einer Plenarsitzung war es gekommen, denn Preußen und Russen weigerten sich, mit Frankreichs Vertretern an einem Tisch zu sitzen, so dass aller Austausch über Metternichs Vermittlung erfolgen musste. Wenigstens dieser hatte keine Langeweile. Nicht nur lief er geschäftig zwischen den Seiten hin und her, sondern auch Wilhelmine von Sagan hatte für die Kongresszeit ihr Kleinseitner Palais bezogen und so ihrem Liebhaber signalisiert, dass jetzt eher Nähe als Distanz angesagt sei. Die drei gekrönten Häupter der Koalition trafen erst einige Tage nach dem „Friedenskongress“ in Prag ein, ihr Thema aber war nicht der Frieden, sondern die Kriegsvorbereitung. Dabei setzte Österreich gegen hinhaltenden russischen Widerstand Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg als Oberbefehlshaber der Koalitionsarmeen durch – den direkten Vorfahren des ehemaligen tschechischen Außenministers. Ein klarer Beweis des gewachsenen politischen Gewichts Österreichs, als Dank dafür erhob Kaiser Franz nach Leipzig Metternich in den erblichen Fürstenstand.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?