Mildernde Umstände
Das Hultschiner Ländchen (Teil 4): Nach dem Zweiten Weltkrieg stritten Politiker über den Umgang mit der Minderheit. Sollten die Hultschiner vertrieben oder integriert werden?
21. 5. 2015 - Text: Josef Füllenbach, Foto: Archiv Muzea Hlučínska (Marienprozession in den fünfziger Jahren)
Das Hultschiner Ländchen, unscheinbar und bescheiden im Nordosten Tschechiens gelegen, zeichnet sich durch nichts weiter aus als durch sein wechselhaftes und darum unverwechselbares Schicksal im deutsch-tschechischen Spannungsfeld. Das Land und seine Bewohner sind bis heute von dieser Vergangenheit geprägt. Die „Prager Zeitung“ zeichnet in mehreren Beiträgen die eigentümliche Geschichte des Hultschiner Ländchens nach.
Mit der deutschen Staatsbürgerschaft erwarben die Hultschiner 1938 auch alle mit ihr verbundenen Rechte und Pflichten. Sie trugen jedoch schwerer an den Pflichten, deren schwerste der Dienst in der deutschen Wehrmacht war. Im Laufe der Kriegsjahre wurden an die 12.000 Hultschiner eingezogen, die sich auf alle Kriegsfronten verteilten. Je länger sich der Krieg hinzog, desto schwerer wurde die Bürde auch für die Daheimgebliebenen. Besonders seit 1943 lasteten Fabrikarbeit, Haushalt mit Kindern, Haus und Garten auf den Schultern der Frauen. Hinzu kam die ständige Angst um das Schicksal der Männer und Söhne.
Die letzten Kriegsmonate waren für das Hultschiner Ländchen verheerend. Viele Bewohner wurden bei herannahender Front evakuiert, denn der Landstrich zwischen Opava und Ostrava galt als ideales Einfallstor aus dem Norden, von wo die Rote Armee anrückte. Und die deutschen Verbände zögerten nicht, die im Ländchen noch von der ČSR gegen die deutsche Bedrohung erbauten Festungswerke zu nutzen, um den Sowjets dauerhaften Widerstand zu leisten. Die erbitterten Kämpfe dauerten von Ende März bis zum 1. Mai 1945, der das Kriegsende auch für die letzten beiden Hultschiner Ortschaften markierte. Rund 2.500 Hultschiner verloren dabei ihr Leben; zudem lagen zahlreiche Ortschaften nach Artilleriebeschuss und Straßenkämpfen in Trümmern.
Ein Viertel der Hultschiner Wehrmachtssoldaten fiel an der Front oder blieb vermisst, rund 5.000 wurden verwundet oder zu Krüppeln gemacht. Etwa 150 Hultschiner kämpften als Legionäre gegen Hitlerdeutschland, elf davon kehrten nicht mehr zurück. Von 21 in Konzentrationslagern gefangenen Hultschinern kamen zehn ums Leben. Unter den letzten Kriegsgefangenen, die nach Adenauers Moskau-Besuch 1955 die Heimkehr antreten konnten, befanden sich auch einige Hultschiner. Eines dieser Schicksale hat Anna Malchárková in ihrem ersten Roman „Modrá barva duhy“ („Die blaue Farbe des Regenbogens“) geschildert. Noch heute bestehen die älteren Hultschiner darauf, dass die Tschechen im Protektorat mit Blick auf die Auswirkungen des Krieges das vergleichsweise leichtere Los gezogen hätten. Vergleicht man den Anteil der Todesopfer an der jeweiligen Gesamtbevölkerung oder das Ausmaß der Zerstörungen, dann trifft diese Einschätzung sicher zu. Es war zwar kein selbstgewähltes Los, aber doch eines, das im Herbst 1938 die Mehrheit der Hultschiner als glückliche Fügung mit Freude begrüßt hatte, blind für die schrecklichen, nur von wenigen Hellsichtigen erahnten Folgen.
Auch nach dem Krieg erwartete die Hultschiner kein einfaches Schicksal. Zunächst kamen auf sie Jahre der existenziellen Unsicherheit zu. Nur eines war sicher: dass das Territorium des Ländchens wieder zur neu erstandenen Tschechoslowakei geschlagen wurde, der dritte Wechsel der Flagge innerhalb von 25 Jahren. Doch war keineswegs ausgemacht, dass die „abtrünnigen“ oder zumindest „staatlich unzuverlässigen“ Hultschiner überhaupt in ihrem Ländchen bleiben durften. Nach dem teils schwammigen Wortlaut der Beneš-Dekrete hatten die meisten von ihnen durchaus ins Kalkül zu ziehen, zwangsweise nach Deutschland ausgesiedelt zu werden.
Brennende Fragen
Aber ohnedies herrschte Unklarheit hinsichtlich möglicher Enteignungen, was die Frage aufwarf, ob es sinnvoll war, sich mit dem gewohnten Fleiß in den Wiederaufbau von Haus, Hof und Gemeinde zu stürzen. Überhaupt stand die Frage nach Bestrafung derjenigen im Raum, die sich angeblich durch Verrat am eigenen Land schuldig gemacht hatten, und wer sollte unter dieses Verdikt fallen? Jeder Soldat der Wehrmacht? Jedes Mitglied von Nazi-Organisationen? Zu diesen brennenden Fragen kamen noch die nach Kriegsende desolate Lage der Wirtschaft, die Desorientierung der Gesellschaft, die politischen Unwägbarkeiten, das Fehlen der vielen gefallenen oder in Gefangenschaft geratenen Soldaten und die generell misstrauische bis feindselige Einstellung der neuen Machthaber. Unter dem Druck dieser Verhältnisse entschlossen sich rund 700 Hultschiner „aus freien Stücken“ zum Verlassen des Landes.
Grundsätzlich stritt man auf tschechoslowakischer Seite über zwei Ansätze, wie das „Hultschiner Problem“ anzugehen sei. Der radikalere Ansatz, besonders von den Kommunisten vertreten, betrachtete fast alle Hultschiner als Deutsche. Sie sollten deshalb wie die Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieben werden. Auf der anderen Seite stand das Bemühen, bei den Hultschinern mit unbestreitbar slawischen Wurzeln den langjährigen Einfluss deutscher Herrschaft als mildernden Umstand gelten zu lassen und ihnen eine faire Chance zu geben, sich zu loyalen Bürgern zu entwickeln. Zudem wäre es kaum nachvollziehbar gewesen, dieselben Menschen als Deutsche aus dem Lande zu weisen, auf deren Eingliederung als Tschechen die Regierung nach dem Ersten Weltkrieg so nachdrücklich bestanden hatte. Wortführer dieser von historischem Verständnis und Nachsicht geprägten Linie, die schließlich Oberhand gewann, war die Volkspartei, darin unterstützt von den Sozialdemokraten.
Gleichwohl gab es keine automatische Aufnahme in die ČSR-Staatsbürgerschaft. Stattdessen entstand eine Vielzahl von Kommissionen, die jeden einzelnen Antrag auf eine Staatsbürgerurkunde prüfte: Insbesondere ethnische Deutsche und Hultschiner, die freiwillig im Freikorps, in der SS sowie führend in der NSDAP oder irredentistischen Bewegungen mitgemacht hatten, sollten das Land verlassen. Auf diese Weise verloren etwa 2.300 Hultschiner Heimat und Eigentum. Nach dem kommunistischen Umsturz vom Februar 1948 verfügte die Prager Regierung, die Säuberungsverfahren im Hultschiner Ländchen neu aufzurollen. Denn dass weit über 90 Prozent der Einwohner die Staatsbürgerschaft erhalten hatten und bleiben konnten, erschien unangebracht milde.
Letztlich gab es nur wenige neue Konfiskationen und Ausweisungen, man fürchtete das negative Echo im Ausland. Einige Familien mussten deshalb unter Verlust ihres Eigentums ins Landesinnere übersiedeln. Die neuerlichen Überprüfungen erfüllten vor allem durch Verbreitung von Unruhe, Ungewissheit und Furcht vor der Zukunft ihren Zweck. Zusätzlich machten den Hultschinern ab 1949 die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Verstaatlichung der Handwerksbetriebe und des Handels zu schaffen. Dies waren schwere Eingriffe in die bisherige Lebensweise, verbunden mit dem Entzug der Grundlagen wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit. Nicht zuletzt bedrückte die weiterhin streng gläubige Bevölkerung die Geringschätzung, ja Verachtung alles Religiösen. Auf der anderen Seite sorgte der Aufschwung von Bergbau und Schwerindustrie im nahen Revier um Ostrava ebenso für Arbeitsmöglichkeiten der Hultschiner wie die in den fünfziger Jahren im Ländchen selbst einsetzende Ansiedlung einiger Industriebetriebe.
Im Gedächtnis derer, die die damalige schwere Zeit als Kinder oder Jugendliche erlebt hatten und heute zurückblicken, überwiegen die negativen Erfahrungen. Gemeinsamer Nenner aller Erinnerungen sind die Demütigungen durch die neuen Machthaber, in deren Augen die Hultschiner in ihrer großen Mehrheit einfach als Verräter galten. Dass die meisten sich seinerzeit als deutsche Staatsbürger dem Dienst in der Wehrmacht nicht entziehen konnten, interessierte niemanden, auch nicht, dass die Eindeutschung 1938 auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Reich und der ČSR automatisch erfolgt war. Dass sie dennoch bei jeder Gelegenheit des Vaterlandverrats bezichtigt (wenn auch nicht bestraft) und oft entsprechend behandelt wurden, empfanden die Hultschiner als Ungerechtigkeit. Ihren Ruf als vaterlandslose Gesellen bestärkten die Hultschiner in den sechziger Jahren erneut, als die Bundesrepublik Deutschland begann, Witwen- und Waisenrenten an die Hinterbliebenen der im Krieg Gefallenen oder Invalidenrenten an ehemalige Wehrmachtssoldaten zu zahlen. Das brachte einerseits spürbaren Wohlstandsgewinn ins Ländchen, andererseits wurde im Umfeld die Erinnerung daran aufgefrischt, wie die Hultschiner „die Tschechen verraten hatten“, und unvermeidliche Neidgefühle geweckt.
Diese bis weit in die sechziger Jahre vorherrschende Konstellation brachte es mit sich, dass sich die Hultschiner – ohnehin seit langer Zeit ein nach außen relativ abgeschlossenes Völkchen – weiterhin zurückzogen. Sinnbild dieses Zusammenrückens in der Not ist bis heute das Narrativ vom Wiederaufbau der Häuser und Dörfer: Alles oder zumindest fast alles wurde unter schwierigsten Bedingungen mit eigener Hände Arbeit und in gegenseitiger Nachbarschafts- und Verwandtenhilfe geleistet. Man erhielt und brauchte so gut wie keine Hilfe von außen, schon gar keine staatliche. Und wenn in den Augen „der anderen da draußen“ der kollektive Makel des Verrats an den Hultschinern hing, so sehen sie sich selbst bis heute in positivem Kontrast zum großen Rest der Bevölkerung mit allen wirklichen oder vermeintlichen preußischen Tugenden ausgestattet: unermüdlicher Fleiß, handwerkliche Geschicklichkeit, Zusammenhalt in der Gemeinschaft, penible Sauberkeit der Orte und die Gewissheit, schwerste Prüfungen gemeinsam durchgemacht und bestanden zu haben.
Deutsche Pässe
Die Wende von 1989 brachte den Hultschinern neben Freiheit und Demokratie auch einige Veränderungen, die mit ihrer Geschichte zu tun hatten. Bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, die bei den Alteingesessenen durchgängig gegeben waren, konnte der Fortbestand der deutschen Staatsbürgerschaft festgestellt und daraufhin ein deutscher Pass ausgestellt werden. Davon machten bald nach der Wende viele Hultschiner Gebrauch, die auf diese Weise schon lange vor dem EU-Beitritt Tschechiens zur Arbeit nach Deutschland und in andere EU-Länder ziehen konnten, um den Lebensstandard zu Hause rasch und kräftig anzuheben. Noch heute ist die Nachfrage nach deutschen Papieren groß, der die Deutsche Botschaft Prag durch regelmäßige „Konsularsprechtage“ vor Ort nachkommt. Ein deutscher Pass, so heißt es, erleichtert das Reisen durch die Welt.
Ein wichtiges Herzensanliegen war die Errichtung von Gedenktafeln oder -steinen für die im Krieg gefallenen Hultschiner Wehrmachtssoldaten. Das war vor der Wende politisch nicht möglich, konnte aber jetzt in allen Gemeinden, wenn auch vielfach gegen Widerstände, durchgesetzt werden. Ferner blühte das Vereinsleben wieder auf, ein Schlesisch-Deutscher Verband mit Sitz in Bolatice (Bolatitz) wurde zur Pflege von Literatur und Kultur sowie zur Förderung der deutschen Sprache ins Leben gerufen, generell erhielten die Verbindungen zu Verwandten und Freunden in Deutschland wieder Auftrieb, und die Hultschiner konnten wieder unbefangen ihre Wertschätzung der immer noch wirksamen Bindung an Deutschland erkennen lassen.
Eine Gruppe von Soziologen der Universität Olomouc (Olmütz) unter der Leitung von Helena Kubátová hat jüngst im Rahmen einer umfassenden Feldstudie versucht, unter dem Gesichtspunkt von Modernisierungsprozessen den Veränderungen von Lebensweise und Einstellungen der Hultschiner von der älteren über die mittlere bis zur jüngeren Generation auf die Spur zu kommen. Danach haben die Jüngeren heute kein besonderes Interesse mehr an den vielschichtigen historischen Verwerfungen, denen die Hultschiner Identität ihre spezifische Prägung verdankt. Andererseits lebt diese Prägung in den nachwachsenden Generationen fort: Bei Merkmalen wie familiäre Bindung, Religiosität, Arbeitswille, lokale Endogamie, Hilfsbereitschaft und Gemeinschaftssinn unterscheiden sich die jüngeren Hultschiner weiterhin markant vom tschechischen Durchschnitt. Dabei lässt sich freilich beobachten, dass sich die konkreten Ausdrucksformen dieser Merkmale allmählich an die modernen Entwicklungen anpassen. Auf diese Weise gelangt die Kunst der Anpassung an ein sich änderndes Umfeld bei gleichzeitiger Wahrung der Eigenartigkeit – eine Kunst, die von den Hultschinern seit Urgedenken in existenziellen Konfliktsituationen eingeübt wurde – heute unter günstigeren Bedingungen zu neuer Anwendung.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ