Mit klopfendem Herzen
In „Heimkehr“ erzählt Joseph Wechsberg, wie er als amerikanischer Soldat nach Mähren zurückkehrt
18. 12. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Arco
Mai 1945: Deutschland hat kapituliert. Die amerikanische Armee hat ihren Vormarsch in Pilsen gestoppt, denn hier verläuft die vereinbarte Demarkationslinie zur Roten Armee, die den übrigen Teil der Tschechoslowakei erobert hat. Joseph Wechsberg, 39 Jahre alt, ist Militärkorrespondent der amerikanischen Armee. Er hat sich in den Kopf gesetzt, über Pilsen hinaus in das 470 Kilometer entfernte Ostrau (Ostrava) zu fahren, um sich Gewissheit zu verschaffen, ob die Eltern seiner Frau noch am Leben sind.
Ostrau ist Wechsbergs Heimatstadt. Hier ist er 1907 als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren. 1930 beginnt er mit dem Schreiben. In renommierten Zeitungen wie dem „Prager Tagblatt“ und der zionistischen Wochenzeitung „Selbstwehr“ erscheinen ab Mitte der dreißiger Jahre seine Artikel, in denen er gegen den Antisemitismus und die Diktatur in Hitlerdeutschland klare Positionen bezieht. 1938 fährt er im Auftrag der tschechoslowakischen Regierung zusammen mit seiner Frau in die USA. Hier soll er in öffentlichen Vorträgen die verlogene Propaganda der Henlein-Partei von der Unterdrückung der Sudetendeutschen aufdecken. Doch noch während er mit seiner Frau an Bord eines Ozeandampfers über den Atlantik fährt, erreicht ihn die Nachricht vom Münchner Abkommen. Als Jude und Antifaschist muss er die Verfolgung durch die deutschen Besatzer fürchten. Deshalb entscheidet er sich, in Amerika zu bleiben. Fünf Jahre später kehrt er als Angehöriger der U.S. Army nach Europa zurück.
Ohne seine Vorgesetzten zu informieren, bricht Wechsberg zu seiner abenteuerlichen Fahrt nach Ostrau auf. Seine Erlebnisse veröffentlicht er ein Jahr später unter dem Titel „Heimkehr“. Wechsbergs Reportage über seine Fahrt durch das Land und seine Eindrücke in der mährischen Großstadt unmittelbar nach Kriegsende bilden ein einzigartiges Dokument: Als erster amerikanischer Soldat erreicht er Ostrau, stets getrieben von der Frage, ob er seine Angehörigen noch lebend antreffen wird.
In Prag vor dem Masaryk-Bahnhof, wo er in den ersten Zug nach Ostrau steigt, „markieren frische Blumen, Kränze, kleine Fähnchen und brennende Kerzen die Stelle, wo die Deutschen vor ein paar Tagen 73 tschechische Patrioten mit Maschinengewehren niedergemäht hatten“.
Im Zug trifft Wechsberg auf ehemalige Insassen deutscher Konzentrationslager, die meisten von ihnen Polen aus Buchenwald und Mauthausen. Die nach Osten rollenden Züge sind überfüllt mit russischen Soldaten, die nach Hause fahren. Er schildert die jungen Leute, die singen, lachen und natürlich auch Wodka trinken, mit viel Sympathie. Er bangt um ihr Leben, wenn sie auf die Waggon-Dächer klettern, um dort, eingehüllt in ihre dicken Decken, sofort einzuschlafen.
Vom Pferd zum Auto
Interessiert beobachtet Wechsberg Verhalten und Lebensweise der russischen Menschen. Schon in Prag war ihm zum Beispiel aufgefallen, wie vernarrt die Russen sich beim Autofahren verhalten, indem sie ständig die Hupe bedienen und beim Warten an einer Kreuzung den Motor aufheulen lassen. Als er einen russischen Offizier fragte, warum die russischen Soldaten immer so unglaublich schnell Auto fahren und dabei hupen, bekam er zur Antwort: „Die meisten meiner Männer hatten noch nie in ihrem Leben so ein verdammtes Auto gesehen“, sagte er. „In drei Jahren vom Pferd zum Auto … – das ist verdammt schnell, oder?“
Auf dem Bahnhof von Prerau (Přerov) sieht Wechsberg eine Gruppe von Sudetendeutschen, die – von zehn- bis 19-jährigen Partisanen bewacht – mit dem großen „N“ als Deutsche gekennzeichnet, auf ihren Abtransport in ein Lager warten. Wechsberg, der noch ganz unter dem Eindruck der von den Deutschen verübten Verbrechen steht, betrachtet sie pauschal als Handlanger der Nazi-Diktatur. Doch schon ein Jahr später fällt sein Urteil differenzierter aus und er stellt fest, dass die Deutschen nicht nur Täter in der Zeit des Protektorats waren, sondern auch Opfer im Zusammenhang mit der Vertreibung.
In seiner Heimatstadt trifft er auf Trümmer, Zerstörung und Elend. Zu den vielen zerstörten Gebäuden gehört auch Wechsbergs Geburtshaus in der Nähe des Marktplatzes. Von der quirligen, lebendigen Industriemetropole – mit ihren teuren Geschäften in der Straße des 28. Oktober, den Bars mit berühmten Jazzbands und den zwielichtigen Nachtlokalen sah er in ihr eine Art Klein-Chicago – war nach der drei Monate langen Belagerung nicht viel übrig geblieben.
Jubel und Enttäuschung
Hatten die Bewohner des Arbeiterviertels Witkowitz (Vítkovice) den russischen Konvoi, mit dem Wechsberg den letzten Teil seiner Strecke zurückgelegt hatte, noch mit roten Fahnen und mit Transparenten, auf denen Bilder von Masaryk, Beneš und Stalin zu sehen waren, begrüßt, hielten sich die Menschen im Stadtzentrum merklich zurück. Hier gab es keine Szenen der Verbrüderung. Doch als Wechsberg zwei Revolutionsgardisten gegenüber erklärt, dass er Amerikaner sei, sieht er sich plötzlich von einer jubelnden, rufenden und lachenden Menge umgeben. Sie fragen ihn, wann denn die Amerikaner einträfen. Die Enttäuschung ist groß, als er ihnen mitteilt, dass sie überhaupt nicht kommen werden.
Die Begegnungen mit den Ostrauern lassen Wechsberg erahnen, dass ein immer größer werdender Riss durch die Bevölkerung geht: Die einen bejubeln die Rote Armee als Befreier, bei den anderen, die Zeuge von Übergriffen der Russen gegen die Zivilbevölkerung werden, wächst die Angst vor einer Zukunft unter russischer Bevormundung.
Mit klopfendem Herzen klingelt Wechsberg an der Wohnung seiner Schwiegereltern. Sie sind, wenn auch gezeichnet vom Leben im Keller, dem Hunger und ausgestandenen Todesängsten unter der deutschen Besatzungsmacht zu Tränen gerührt. Außer sich vor Freude klatschen die Schwiegereltern in die Hände, als Wechsberg seine Lebensmittelschätze auspackt: „Drei Pfund Kaffee, Corned Beef und Büchsenfleisch, fünf Stück Toilettenseife, Schokolade und zwei Stangen Zigaretten.“ Ihre Tochter habe das meiste für sie in Amerika eingekauft, sagt er. In einem Drive-in-Supermarkt – ein Wort, das die Schwiegermutter nie zuvor gehört hatte.
Wechsbergs Fazit bei seinem Abschied aus der Heimatstadt lautet: Verwandte, Freunde und Bekannte sind, bis auf eine Hand voll, tot, ermordet, emigriert. Von der lebendigen Stadt seiner Jugend sind nur schäbige Häuser, schmutzige Straßen und Kohlenstaub übrig geblieben. „Von der Stadt, die ich gekannt hatte, war nichts mehr übrig und ich wusste, dass ich jetzt wirklich heimkehren würde. Heim nach Amerika.“
Wechsberg war eine unglaublich vielseitig talentierte Persönlichkeit und machte sich nicht nur als Journalist und Buchautor einen Namen. Ursprünglich hatte er Jura studiert und seine Dissertation mit „summa cum laude“ abgeschlossen. Seine eigentliche Liebe galt allerdings der Musik. Sein Studium am Wiener Konservatorium beendete er als Geiger der Meisterklasse.
Liebhaber des Lebens
Wechsberg hat die Schrecken der Naziherrschaft mit erlitten: Seine Mutter wurde im KZ ermordet, eine große Zahl seiner Freunde und Bekannten wurde ebenfalls Opfer der Nazi-Diktatur. Dennoch ist er ein Liebhaber des Lebens geblieben, einer der auch anderen seine Lebensfreude weitergeben wollte. Davon zeugen vor allem seine Kochbücher, die in den siebziger Jahren auch in Deutschland, zum Beispiel von Wolfgang Siebeck, hochgeschätzt wurden. Wechsberg verstand es auf verblüffende Weise, seine Leser bei seinen kulinarischen Streifzügen von jüdischen Gerichten vorzuschwärmen, um sie im gleichen Atemzug mit Details von Mordaktionen an den Juden zu konfrontieren. Es ist verdienstvoll, dass der Arco-Verlag Wechsbergs „Heimkehr“ wieder neu herausgegeben hat. Bleibt zu hoffen, dass noch weitere der 30 Bücher folgen, die der talentierte Reporter, Weltenbummler, Musikkenner und Gourmet geschrieben hat.
Joseph Wechsberg: Heimkehr. Arco Verlag, Wuppertal & Wien 2015, 175 Seiten, 15 Euro,
ISBN 978-3-938375-22-8
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?